Massenmorde in Kambodscha Heilung für ein geschundenes Volk

Fast 40 Jahre nach Pol Pots Terrorherrschaft sind viele Kambodschaner noch immer traumatisiert. Die Dokumentare des Grauens träumen von einer Gedenkstätte, die Linderung bringen soll. Doch die ungewisse Zukunft des Landes überschattet alle Pläne.

Chum Mey auf dem Hof des Horror-Gefängnisses Toul Sleng: Er ist einer der beiden letzten Überlebenden.

Foto: Andreas Baumann

Soum Sek (44) sitzt im Dschungel und filmt sein Mittagessen mit dem Smartphone. Auf dem Fußboden des strohgedeckten Holzpavillons dampfen Fischsuppe, Reis und Wildfleisch-Curry. Ringsum liegen die Hütten des Bergdorfs verstreut zwischen Bäumen und Stauden, weit unten dehnt sich die dunstige Ebene von Anlong Veng, und über die Felskante weht leichter Wind. Das Dorf an der Grenze zu Thailand, vor 20 Jahren letzte Hochburg der mörderischen Roten Khmer, wirkt heute still und friedlich. Und doch ist die blutige Vergangenheit in Kambodscha noch längst nicht Geschichte.

Soum Sek hat einen Touristen aus dem 120 Kilometer entfernten Siem Reap hergefahren, der Stadt der berühmten Tempelanlagen von Angkor Wat. Der Ausländer hat ihn zum Essen eingeladen. "Immer wenn ich eine so gute Mahlzeit kriege, muss ich an meine Familie denken", sagt Sek, ein hagerer, kluger, zorniger Mann mit schlechten Zähnen. Seit zehn Jahren, erzählt er, schlägt er sich als Fahrer für eine Firma in Siem Reap durch, während seine Frau und die beiden Kinder im 60 Kilometer entfernten Heimatdorf leben. Er sieht sie oft monatelang nicht. Denn er muss jeden Tag arbeiten, und wenn er freimachen will, zieht ihm sein Boss zehn Dollar ab - bei 70 Dollar Monatslohn. Was er sparen kann, schickt er der Familie. Von seinem Traum, zumindest dem Sohn privaten Englischunterricht zu ermöglichen, ist er weit entfernt. "Es gibt Tage", sagt der 44-Jährige, "an denen ich nicht weiß, wie ich mein Essen bezahlen soll".

Die Roten Khmer löschten 1,7 Millionen Landsleute aus

Soum Sek ist das andere Gesicht Kambodschas. Eines, das die meisten der rund fünf Millionen Touristen, die jährlich das Land bereisen, nicht wahrnehmen. Sie sehen farbenprächtige Pagoden, wogende grüne Reisfelder, pulsierende Straßenmärkte, palmengesäumte Strände, das Lächeln der freundlichen Menschen. Doch rund sechs der 15 Millionen Einwohner leben in bitterster Armut - vor allem auf dem Land, wo viele Menschen Frösche und Ratten fangen, um nicht zu hungern. Das Gesundheitswesen ist so unzulänglich wie das Schulsystem. Der Staat, seit drei Jahrzehnten beherrscht von Regierungschef Hun Sen und seiner Cambodian People's Party (CPP), bekommt die Probleme nicht in den Griff.

Dass Kambodscha zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, ist auch eine Spätfolge der alptraumhaften Jahre unter den Roten Khmer und des folgenden Bürgerkriegs. Pol Pot und seine Steinzeit-Kommunisten löschten gezielt die gebildeten Schichten des Landes aus, töteten Ärzte, Ingenieure, Künstler. Von April 1975 bis Januar 1979 wurden rund 1,7 Millionen Menschen auf den Killing Fields umgebracht oder starben an Hunger, Krankheit und Entkräftung bei der Zwangsarbeit in der Landwirtschaft. Die Methoden der Roten Khmer waren so unsäglich grausam, dass der Schock in der kambodschanischen Bevölkerung bis heute nachwirkt. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber 14 bis 33 Prozent der Überlebenden, so ausländische Studien, sind noch immer traumatisiert. Selbst nachfolgende Generationen aus den belasteten Familien zeigen Symptome wie Depressionen, häufige Müdigkeit oder Bauchschmerzen. Kambodscha ist ein Musterfall dafür, was geschieht, wenn in einem von Bürgerkrieg und Gräueltaten verheerten Land die Vergangenheit nicht aufgearbeitet wird, um Versöhnung zu ermöglichen. Eine Herausforderung, die zum Beispiel Syrien, Irak oder Jemen noch bevorsteht.

"An diesem Tisch saß Pol Pot mit seinen Kommandeuren", sagt Ly Sok-Kheang (36) im Dschungeldorf bei Anlong Veng. Das kleine Haus hat dicke Betonmauern und vergitterte Fenster, die vor Granatenbeschuss schützen sollten. Nachdem die Vietnamesen die Roten Khmer 1979 aus den meisten Provinzen vertrieben hatten, verschanzte sich Pol Pot im Grenzgebiet. Fast 20 Jahre wütete dann der Bürgerkrieg, bis die letzten Soldaten 1998 kurz nach dem Tod von "Bruder Nummer 1" die Waffen streckten. Geschätzte 80 Prozent der rund 50 000 Menschen, die in den 68 Dörfern der Region leben, sind bis heute Anhänger der Roten Khmer. "Wir sind hier, um ihre Ideologie zu begreifen", erklärt Ly Sok-Kheang. "Hier können wir lernen, das dunkelste Kapitel unserer Geschichte zu verstehen."

Ein Gefühl der Sicherheit

Der 36-Jährige arbeitet für das Documentation Center of Cambodia (DC Cam), eine Nichtregierungsorganisation, die Zehntausende Verbrechen der Roten Khmer recherchiert und dokumentiert hat. Auch die Richter des internationalen Tribunals in der Hauptstadt Phnom Penh, das seit 2009 erst drei ehemalige Top-Kader der Roten Khmer zu lebenslanger Haft verurteilt hat, nutzen die DC-Cam-Akten. In Anlong Veng haben Ly Sok-Kheang und seine Mitstreiter bisher rund 700 Interviews geführt, anfangs misstrauisch beobachtet von den Einheimischen. "Sie hatten Sorge, dass wir für das Tribunal arbeiten", sagt der Wissenschaftler.

Inzwischen sind die Menschen kooperativer. Viele glauben immer noch an kommunistische Ideale einer Gesellschaft ohne Arm und Reich, an das Leben in ihren Dorfgemeinschaften, das ihnen ein Gefühl der Sicherheit gibt. Von Massenmord wollen sie entweder nichts gewusst haben oder weichen Fragen aus. Noch immer verehren sie hier Ta Mok, einen der übelsten Schlächter neben Pol Pot. Der inzwischen gestorbene Kommandeur war bis 1998 eine Art Verwaltungschef in Anlong Veng, ein Kümmerer, der Fischteiche anlegen ließ, damit die Menschen nicht hungern mussten.

Seit 2016 holt Ly Sok-Kheang Studentengruppen zu viertägigen Bildungsprogrammen nach Anlong Veng. "Die meisten wissen wenig über die Vergangenheit", hat er festgestellt. "Und sie sind überrascht, dass die Roten Khmer keine Monster, sondern auch nur Menschen sind." In Dreiergruppen fährt er die Studenten in die Dörfer, wo sie die Bewohner zum Gespräch bewegen sollen. Ihre Erlebnisse verarbeiten die jungen Leute in Artikeln für Lokalzeitungen in ihren Heimatorten.

"Es war schwierig gestern", erzählt Chein Somphois (21), eine Soziologiestudentin aus Phnom Penh. "Einerseits sagen die Leute, sie wüssten nichts über den Völkermord. Andererseits kennen sie aber viele Details. Die meisten wollen mit dem Regime nichts zu tun gehabt haben." Wie fast jede Familie in Kambodscha ist auch die von Chein Somphois betroffen. Die Roten Khmer erschossen ihren Großvater; ihre Mutter musste Zwangsarbeit leisten. Die Mutter spricht selten über diese Zeit. "Sie meint, man könne die Vergangenheit nicht mehr ändern", sagt Chein Somphois. So fatalistisch tickt die Studentin selbst nicht: Die Haftstrafen, die das von den Vereinten Nationen mitgetragene Tribunal verhängt hat, findet sie inakzeptabel. Für die führenden Köpfe der Roten Khmer gebe es nur eine gerechte Strafe: den Tod.

Eine Hölle auf Erden

Damit steht sie keineswegs allein, wie Marcos Smith (51) von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) weiß. "Viele Kambodschaner finden außerdem, dass das Tribunal schon zu lange dauert und zu teuer ist", berichtet er im "Deutschen Haus" in Phnom Penh, in dem auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau sitzt. Zu den GIZ-Aufgaben im Land gehöre, das Bewusstsein für Aussöhnung, Menschenrechte und Rechtsstaat zu schärfen. Die Deutschen unterstützen deshalb die psychologische Betreuung und die juristische Beratung der rund 4000 Opfer, die als Nebenkläger am Tribunal teilnehmen.

Sie organisieren auch Informationsveranstaltungen. Gerade war Smith mit Überlebenden und Anwälten in der Provinz, um mit Zehntklässlern zu diskutieren. Es war ernüchternd. "An vielen Fragen konnte man erkennen, dass die Schüler wenig Ahnung hatten", so Smith. Das hört man auch von Einheimischen: In den Schulen werde die Herrschaft der Roten Khmer nur oberflächlich gestreift, und viele junge Leute interessierten sich mehr für Facebook und Videospiele als für die Vergangenheit des Landes. Smartphones sind in den Städten fast so verbreitet wie im Westen, die Flatrates mit zwei Dollar im Monat vergleichsweise erschwinglich.

Smith würde die jungen Kambodschaner gern in die ehemalige Schule Toul Sleng im Süden der Hauptstadt locken. Es ist ein Ort, den die Roten Khmer in eine Hölle auf Erden verwandelten; ein Gefängnis für 12 000 Opfer, von denen nur eine Handvoll am Leben blieb. Alle anderen erlagen der Folter oder wurden auf einem der geheimen Killing Fields erschlagen, auch Alte, Frauen, Kinder, Babys. Die GIZ will helfen, die Gedenkstätte mit verbesserter Museumspädagogik interessanter für Jugendliche zu machen.

Noch können sie in Toul Sleng fast jeden Tag auf Chum Mey treffen, einen der beiden letzten Überlebenden. Sie hatten ihn aus der Textilfabrik geholt, in der er arbeitete. Zwölf Tage und Nächte, erzählt Chum Mey, sei er immer wieder mit dicken Kabeln geschlagen worden. Mit einer Zange rissen sie ihm einen Zehennagel am rechten Fuß aus. Sie quälten ihn mit Stromstößen. Sie wollten von ihm hören, dass er ein Agent der CIA sei. Am Ende nannte er 60 Namen von Bekannten, die angeblich mit dem US-Geheimdienst kollaborierten - nur damit die Folter aufhörte.

Neuer Film von Angelina Jolie berührt viele der Opfer

Wie in der Vernichtungsmaschinerie der Roten Khmer üblich, landete das Geständnis in den Gefängnisakten. Normalerweise folgte darauf die Exekution. Chum Mey überlebte nur, weil er Mechaniker war und seine Peiniger jemanden brauchten, der Schreibmaschinen reparieren konnte. "Ich bin noch da, aber ich kann nicht sagen, dass ich je glücklich war", resümiert der 86-Jährige. "Meine Frau und meine Kinder sind tot, und die Folter, die ich ertragen musste, war fürchterlich."

Chum Mey hat 2012 über sein Martyrium ein Buch geschrieben, das er in Toul Sleng für zehn Dollar verkauft. "Ich habe es für unsere Jugend gemacht", sagt er. "Damit sich die Geschichte nicht wiederholt." Beim Tribunal trat er als Zeuge gegen den berüchtigten Gefängnischef "Duch" Kaing Guek Eav auf. Dessen Handlangern hat er vergeben. Sie hätten ja nur Befehle ausgeführt, sagt der alte Mann. Bis heute grübelt er aber, was die Roten Khmer dazu getrieben hat, das eigene Volk systematisch abzuschlachten. "Ich verstehe es einfach nicht", murmelt Chum Mey.

Youk Chhang (56) kennt viele solcher Geschichten. Er leitet das 1997 gegründete Documentation Center - und ist selbst ein Opfer. Weil er 1976 in einem Reisfeld unerlaubt Pilze für seine schwangere Schwester gesammelt hatte, misshandelten die Roten Khmer den 15-Jährigen vor den Augen Hunderter Dorfbewohner und steckten ihn ins Gefängnis. "Unser ganzes Volk ist traumatisiert", erklärt der Mann mit den ergrauten Haaren in seinem Büro im Zentrum von Phnom Penh. "Der eine mehr, der andere weniger. Der Massenmord steckt den Menschen in der DNA."

Jahrzehntelang schwiegen die meisten Überlebenden. Es ist nicht die Art der Kambodschaner, über ihre Gefühle zu sprechen. Doch seit Beginn des Tribunals reden sie häufiger über die dunklen Jahre. Es ist wie ein langsames Auftauen. Die US-Schauspielerin Angelina Jolie hat gerade den Film "First they killed my father" produziert, nach den Erinnerungen einer Frau, die von den Roten Khmer als Kindersoldatin missbraucht worden war. Der Film soll in diesem Jahr im Streaming-Dienst Netflix laufen. Nach der Uraufführung in den Ruinen von Angkor Wat beschrieb ein Kulturmanager in der Zeitung "Cambodia Daily" überwältigt, wie seine Mutter auf dem Heimweg im Auto von ihrer eigenen Flucht vor Pol Pots schwarz gekleideten Häschern erzählte - zum ersten Mal nach 40 Jahren.

Zeichen der Hoffnung

Ein "Zeichen der Hoffnung" nennt Youk Chhang so etwas. "Kambodscha bewegt sich." Wenn seine 35 Mitarbeiter bei ihren Recherchen in den Dörfern auf besonders schwer Traumatisierte stoßen, versuchen sie, die Menschen an lokale Kliniken oder Hilfsorganisationen zu vermitteln. Auch buddhistische Zeremonien spenden ihnen Kraft, nötig seien aber mehr Therapeuten und Medikamente, glaubt er. Als erster Schritt müsse eine landesweite Untersuchung den wahren Bedarf zeigen. "Die Regierung muss etwas für die physische und seelische Gesundheit der Menschen tun, sonst wird eine positive Entwicklung in Kambodscha schwierig."

Gesundung für ein geschundenes Volk: Youk Chhang hat eine Vision davon, was dabei helfen könnte. In seinem Traum steht ein modernes Gedenkzentrum in einem grünen Park in Phnom Penh, viel Glas, viel Wasser, schlanke Gebäude, eine Architektur, die an Lotus erinnert. Das Sleuk Rith Institute soll das DC-Cam-Archiv beherbergen, ein Museum, eine Bibliothek, Räume für Schulklassen, eine Halle für Khmer-Kunst. Wissenschaftler sollen es nutzen, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untersuchen und Strategien für Friedensprozesse zu entwickeln. "Erinnerung, Gerechtigkeit, Heilung", so fasst er das Projekt zusammen.

Zaha Hadid glaubte daran. Die Londoner Star-Architektin, vielen Bonnern auch wegen ihres Entwurfs für ein Festspielhaus in Erinnerung, lieferte den Kambodschanern 2014 eine ganze Reihe von Ideen. "Für einen Bruchteil des üblichen Honorars", wie Youk Chhang sagt. "Denn wir haben ihr Herz erreicht." Wochenlang reiste er mit einem Architektenteam durch Kambodscha, um das Land zu verstehen und eine passende Formensprache zu entwickeln. Die Regierung stelle für das Projekt ein sieben Hektar großes Grundstück zur Verfügung, das 200 Millionen Dollar wert sei, berichtet der DC-Cam-Chef.

Doch die 40 Millionen Dollar für Bau und Betrieb sind nicht annähernd beisammen. Gespräche mit Stiftungen und Sponsoren laufen noch. "Aber Kambodscha ist ein kleines Land", schränkt Youk Chhang mit einem Lächeln ein. Im vorigen Jahr war er noch voller Hoffnung, als Zaha Hadid ihren Draht zur Unesco nutzen wollte, um die Organisation als Geldgeberin zu gewinnen. Im März 2016 jedoch erlag sie in Miami einem Herzinfarkt. "Ich wusste, dass sie gerade nach New York zur Unesco wollte", erinnert sich Youk Chhang. "Ihr Tod war für mich, als hätte Gott beschlossen, ein Geschenk zurück in den Himmel zu holen."

Die tiefe Angst, die der Pol-Pot-Terror gesät hat, beeinflusst bis heute die politischen Verhältnisse in Kambodscha. Es gibt Leute, die schon in Tränen ausbrechen, wenn sie nur das Wort "Veränderung" hören. Die fürchten, ein Kampf um die Macht im Land könnte noch einmal im blutigen Wahnsinn enden. Die Regierung unter dem autoritären Premierminister Hun Sen nährt solche Ängste seit Monaten mit gezielten Verlautbarungen. Kritischen Medien droht sie mit "Zerschlagung", wenn sie "zur Unruhe anstiften" sollten. Das Militär, ebenso wie Polizei und Gerichte fest unter Kontrolle der Staatspartei, kündigte hartes Einschreiten an, falls es Straßenproteste geben sollte.

UN-Kommissar ermahnt die autoritäre Regierung

Hun Sen setzte die Opposition im Parlament unter Druck, indem er das Parteiengesetz ändern ließ: Jetzt kann er seine einzige Konkurrenz, die Cambodia National Rescue Party (CNRP), einfach auflösen, falls deren Führung ein nicht näher definiertes Fehlverhalten an den Tag legen sollte. UN-Menschenrechtskommissar Seid al-Hussein ermahnte die Regierung zwar kürzlich, er sei besorgt wegen der vielen Anklagen und Drohungen gegen Mitglieder der Opposition und Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnähmen. Doch Hun Sen will mit aller Macht einen Sieg der CNRP bei den Kommunalwahlen im Juni und den Parlamentswahlen 2018 verhindern. Schon bei den nationalen Wahlen 2013 war es seiner Partei nur knapp gelungen, ihre Mehrheit zu halten. Seitdem wächst die Unzufriedenheit, vor allem unter jungen und gebildeten Kambodschanern.

"Die Regierung tut nichts, um die Not in den Dörfern zu lindern", schimpft Soum Sek im Dschungeldorf bei Anlong Veng. Der Mann, dem manchmal der Magen knurrt, während er Touristen auf Lexus-Ledersitzen durch die Gegend fährt, informiert sich auf Internetseiten unabhängiger Zeitungen und beobachtet die politische Lage. Sein Name ist in diesem Text geändert. Denn wer so offen Kritik äußert, riskiert viel in einem Land, in dem ein Student zu 18 Monaten Haft verurteilt worden ist, nur weil er auf Facebook eine "farbige Revolution" gefordert hatte - eine Anspielung auf die Umwälzungen in der Ukraine.

"Wir wollen Demokratie, wir wollen Freiheit", sagt Soum Sek. "Aber zuallererst brauchen wir Geld, um zu leben." In seiner Verzweiflung hat er vor Jahren illegal im benachbarten Thailand gejobbt. Bis man ihn erwischte und drei Monate ins Gefängnis steckte. Als sie ihn abschoben, erzählt der 44-Jährige mit vor Wut bebender Stimme, filzten ihn die kambodschanischen Grenzer und nahmen ihm alles Ersparte ab. Typisch für die korrupte Polizei sei das. Seiner Frau musste er versprechen, nicht mehr nach Thailand zu gehen, auch wenn das noch größere Armut bedeutet.

Soum Seks Englisch ist nicht perfekt. Doch immer, wenn er Ausländer chauffiert, schildert er ihnen beharrlich, wie er die Situation in Kambodscha sieht. Sie sollen nicht nur den schönen Schein der Tourismuswerbung sehen, sondern sich eine eigene Meinung bilden. Dass diese Offenheit gefährlich sein kann, ist ihm ziemlich egal. "Angst?" fragt Soum Sek. "Was habe ich denn noch zu verlieren?"