Grandhotel Waldhaus in Vulpera Was Karteikarten eines abgebrannten Hotels über die Gäste verraten

Düsseldorf · Als das Hotel Waldhaus in Vulpera abbrannte, konnten 20.000 Karteikarten gerettet werden. Darauf waren Informationen über die Gäste gesammelt worden. Aus ihnen ergibt sich ein Panorama des 20. Jahrhunderts.

Das Hotel Waldhaus in Vulpera.

Das Hotel Waldhaus in Vulpera.

Foto: Edition Patrick Frey

Was machte der Concierge eines Grandhotels in den frühen 1920er Jahren, wenn Gäste ihm dumm gekommen waren und er mal Dampf ablassen wollte? Er setzte sich an die Schreibmaschine „Royal Standard“, spannte die betreffende Gäste-Karteikarte ein und haute in die Tasten: „ekelhafter Nörgler“, „spinnt auf Hochtouren“, „hat einen Vogel“. Und wenn es wirklich arg gekommen war, tippte er mit spitzen Fingern: „lümmelhaft!“.

Diese Kommentare sind keine Erfindung, es gibt sie wirklich. Die Concierges und Empfangschefs des Hotels Waldhaus in Vulpera haben sie geschrieben. Das Haus im schweizerischen Engadin galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Karlsbad der Alpen“. Dorthin reiste per Kutsche oder später in der Rhätischen Eisenbahn, wer etwas für seine Gesundheit tun wollte. Man blieb vier bis fünf Wochen, hielt Schon-Diät, aß, was Magen und Darm gut tat. Man trank Heilwasser aus der Lucius-Quelle und ließ sich mit Aufgüssen erfrischen. In den 1980er Jahren zeichnete Vico Torriani dort eine Show auf, darin begrüßte er die Kessler-Zwillinge. Das Hotel-Publikum rekrutierte sich aus den oberen Zehntausend: Adel, Großindustrie, Kunst, Politik, Finanzwelt. Berlin, Paris, London, New York. Die Versorgung war luxuriös: Auf 300 Gäste kamen 300 Angestellte.

Am 27. Mai 1989 brannte das Hotel ab. Die Ursache war Brandstiftung, bis heute bleibt jedoch unklar, wer dafür verantwortlich ist. Friedrich Dürrenmatt, der Stammgast war und dort einst sein Drama „Die Physiker“ entwarf, veröffentlichte im August desselben Jahres seinen späten Roman „Durcheinandertal“. Der Text liest sich ein wenig so, wie der Titel klingt. Interessant ist er dennoch, und zwar wegen der Handlung. Es geht darin nämlich um ein „Kurhaus“, das von Dorfbewohnern niedergebrannt wird. Dieses „Kurhaus“ ist dem Grandhotel Waldhaus nachempfunden, und weil bald vielerorten gemunkelt wurde, ob der Dürrenmatt wohl mehr wisse, meldete sich der Schriftsteller bei der Polizei. Er übergab seine Aufzeichnungen und versicherte, dass er den fertigen Roman bereits lange vor dem verheerenden Feuer an den Verlag übergeben hatte.

Bei Gästen, die in guter oder übler Weise auffällig wurden, gibt es außerordentliche Anmerkungen

 Gästekarte mit dem per Schreibmaschine eingefügten Zusatz „would like to have 12 Gigolos“.

Gästekarte mit dem per Schreibmaschine eingefügten Zusatz „would like to have 12 Gigolos“.

Foto: Edition Patrick Frey

Der Brand zerstörte alles. Oder zumindest fast alles. Weil die Gästekarteikarten früherer Jahrgänge außerhalb des Anwesens gelagert wurden, blieben sie erhalten. Sie sind zeitgeschichtliches Dokument, Sittenkunde und Bausteine eines Romans. 20.000 Stück gibt es. Sie enthalten als Standard das An- und Abreisedatum, Adresse, Beruf und Zimmerpreise. Zudem Vorlieben der Gäste, Marotten und Einschätzungen zu ihrer finanziellen Situation. Bei Gästen, die in guter oder übler Weise auffällig wurden, gibt es außerordentliche Anmerkungen. Und aus ihnen kann man ablesen, wie sich die Welt in den Jahren zwischen 1921 und 1960 geändert hat.

Das Schlimmste, was einem Gast widerfahren konnte, war der Vermerk: „Keine Ostergrüße mehr!“. Das galt als ultimativer Liebesentzug, und diesen Titel trägt auch der hinreißende, unter anderem von dem Fotografen Lois Hechenblaikner herausgegebene Bildband, in dem einige Karteikarten gesammelt und ausgebreitet werden. Zunächst ist das sehr amüsant zu lesen. Es eröffnet sich eine „Upstairs / Downstairs“-Welt, ein Hauch von „Downton Abbey“ zwischen Salon und Küche. Die Kommentarfunktion hat im Grunde dieselbe Wirkung wie heute Postings in sozialen Netzwerken: bisschen Frust rauslassen, das letzte Wort haben. So entdeckt man Anmerkungen, die vom Glamour der alten Welt künden: „hat beim arrivé großes Theater gemacht“ steht da. „Parkt seinen Alfa Romeo neben Villa Paul und weckt mit seinem Start um 6 Uhr die Gäste.“ Und: „Eifriger Tennisspieler“.

“Regt sich leicht auf“: Gästekarte aus dem Hotel Waldhaus.

“Regt sich leicht auf“: Gästekarte aus dem Hotel Waldhaus.

Foto: Edition Patrick Frey

Manchmal erwacht die Person, um die es geht, vor dem geistigen Auge der Lesenden. Die Dame etwa, über die es heißt: „schwermütig, Nachtwandlerin“. Oder die andere Dame, die so freimütig ihre Wünsche formulierte, dass der Concierge nur mehr in einer Fremdsprache zu protokollieren sich getraute: „Would like to have twelve Gigolos“.

Die Schreibmaschine „Royal Standard“, auf der die meisten Kommentare geschrieben wurden.

Die Schreibmaschine „Royal Standard“, auf der die meisten Kommentare geschrieben wurden.

Foto: Edition Patrick Frey

Die Karteikarten erzählen Zeitgeschichte

Allmählich ändert sich der Ton in den Karteikarten. Ab Mitte der 1920er-Jahre breitet sich Antisemitismus aus. „Frecher Jude“ meint jemand notieren zu müssen, „Stinkjude“ oder „Schießt den Vogel aller Juden ab“. Gäste werden mit dem Buchstaben „P“ taxiert. Er steht für „Palästina“, und das Hotel baute darauf ein widerliches System der Einordnung. Ein einziges „P“ stand demnach für „vorzeigbar“, sieben „P“ für maximale Abscheu.

Allmählich entdeckten auch die Nazis die Vorzüge des Hotels. „Ganz große Person des III. Reichs“ heißt es dann in den Notizen. Sie übernachteten mitunter zur selben Zeit im Hotel wie jüdische Gäste. Sie aßen also miteinander im selben Speisesaal. Als die Nazis ab 1938 Juden systematisch verfolgten, kamen die Postkarten mit den Ostergrüßen des Hotels immer öfter zurück. Viele Empfänger waren im KZ ermordet worden. Die lakonischen Vermerke der Concierges lesen sich wie Zynismus: „1939 parti“. Abgereist.

Dinge und Gegenstände fügen sich zur Historie. Die Karteikarten erzählen Zeitgeschichte. Zusammengelegt dokumentieren sie ein Jahrhundert. Das Tröstliche: In den zwischen Diskretion und Observation entstandenen Porträtskizzen und Charakter-Miniaturen bleibt das Andenken der Menschen bewahrt.

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