Interview mit Hans Steinbichler „Ich wollte die Figur nicht überhöhen“

Hans Steinbichler über seinen Film, Anne Frank, den Mythos und die Verantwortung als deutscher Regisseur bei diesem Thema.

 „Ich empfinde eine Kollektivschuld“: Der Regisseur Hans Steinbichler bei einer Pressekonferenz.

„Ich empfinde eine Kollektivschuld“: Der Regisseur Hans Steinbichler bei einer Pressekonferenz.

Foto: dpa

"Das Tagebuch der Anne Frank“ gehört zur Weltliteratur. Vor sieben Jahren wurde es in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen. Regisseur Hans Steinbichler hat das Tagebuch nun neu verfilmt, dabei versucht den Menschen Anne Frank hinter dem Mythos aufzuspüren. Seit dieser Woche läuft „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Kino. Mit Steinbichler sprach Martin Schwickert.

Was macht die Qualität von Anne Franks Tagebüchern aus, die auch nach über 70 Jahren nichts von ihrer Wirkung als Zeitdokument eingebüßt haben?
Hans Steinbichler: Als ich jetzt im Zuge dieses Filmprojekts den Text nach langer Zeit wieder las, war ich wirklich überrascht, was für eine Qualität diese Aufzeichnungen haben: die Schärfe der Beobachtungsgabe, das Sezieren von Beziehungen und immer wieder zwischendrin – etwa wenn Anne über die Rolle der Frau oder den Zustand der Welt schreibt – Momente, die so modern sind, dass man sich fragt, wie ein Mädchen in dem Alter und in dieser Zeit das hinbekommen kann. Die Wirkung des Buches wird einerseits durch dieses überraschend Moderne des Geschriebenen bestimmt und andererseits dadurch, dass man weiß, dass dieses Mädchen, das man höchst lebendig vor sich sieht, von den Deutschen am Ende ermordet wurde.

Wie würden Sie die besondere Wirkung des Tagebuchs auf Jugendliche beschreiben?
Steinbichler: Da ist ein Mädchen, das will erwachsen werden. Sie bekommt ihre Tage, will sich verlieben, hat Konflikte mit ihren Eltern, die rabiat und geradezu heutig beschrieben sind. Anne Frank wollte das ganz normale Leben eines jungen Mädchens führen. Das ist aus meiner Sicht der Grund, warum sich auch heute noch junge Menschen mit ihr identifizieren können.

Es gab ja schon einige Anne-Frank-Verfilmungen vor allem im englischen Sprachraum. Warum war es an der Zeit, dass sich eine deutsche Produktion dieser Geschichte annimmt?
Steinbichler: Das war der Wunsch des Anne-Frank-Fonds, der von Annes Vater Otto gegründet wurde und seither Annes geistiges Erbe schützt und verwaltet. Dem Fond und den Produzenten war es ein Anliegen, siebzig Jahre nach Annes Tod einen deutschen Kinofilm – den ersten übrigens – über diese durch und durch deutsche Familie zu machen. Mit deutschen Schauspielern, einem deutschen Regisseur und in deutscher Sprache. Ich fand diesen Aspekt entscheidend, da ich als deutscher Filmemacher bei diesem Thema natürlich eine ganz andere Perspektive einnehme, als dies beispielsweise ein Steven Spielberg tun würde. Als deutscher Regisseur kann man hier nicht so tun als verfilme man irgendeine Geschichte, die sich vor siebzig Jahren ereignet hat.

Sie gehören zur Enkelgeneration der Täter. Hat diese Generation einen klareren Blick auf die Geschichte?
Steinbichler: Mein Vater ist Jahrgang 1936 und seine Generation hatte sich einen Philosemitismus antrainiert, der nur ein Reflex auf das Ungeheuerliche war und eine Erziehung verdeckte, die ganz andere Dinge vermittelt hat. Meine Generation kann mit einem Abstand auf den Nationalsozialismus blicken und durfte sehr viel über diese Zeit lernen. Unsere Generation hat, so hoffe ich zumindest, einen schärferen Blick, ist aber nicht entbunden von Scham und Schuldgefühlen. Auch wenn es manchmal heißt, es gäbe keine Kollektivschuld – ich empfinde sie.

Anne Frank ist auch eine Ikone. Jeder kennt ihr Bild, auch wenn vielleicht nicht jeder ihre Tagebücher gelesen hat. Wie geht man als Filmemacher damit um?
Steinbichler: Ein Mythos kann zunächst einmal ein großes Hindernis sein und dazu führen, dass eine historische Figur missbraucht wird. Meine Herangehensweise war es, genau diesem Mythos nicht zu dienen, sondern zurück zu den Wurzeln zu gehen: Dass hier ein Tagebuch gefunden wurde, wovon es möglicherweise noch zig andere in ähnlicher Qualität in Europa gegeben hat, die aber vernichtet, verbrannt oder vergessen wurden. Ich wollte anhand dieses einzigartigen Textes allein die konkrete Geschichte dieses Mädchens zeigen. Hier ist ein Mensch in seiner Zerrissenheit, in seinem Wachsen, im Erwachen der Sexualität, oft verzweifelt und mit Gefühlen, die jeder kennt. Und dieses normale Leben wurde ihr einfach geraubt. Ich wollte die Figur nicht überhöhen. Je mehr man Anne Frank als normales Mädchen zeichnet, umso schmerzhafter ist ihr Tod.

Aber gleichzeitig scheint sie emotional und intellektuell ihrem Alter und ihrer Zeit oftmals weit voraus...
Steinbichler: Es gibt Stellen in dem Buch, an denen man sich einfach nur wundern kann. Da stehen Sätze für die Ewigkeit. Anne Frank hatte genialische Momente in ihrem Ausdruck und ihrer Geisteskraft. Wenn sie überlebt hätte und man ihre mögliche Entwicklung weiterdenkt, wäre Anne Frank heute sehr wahrscheinlich eine Geistesgröße unseres Landes. Eine Frau vom Format einer Gräfin Dönhoff, die unbeirrbar ihren Weg geht und eine Haltung und vor allem ein Frauenbild verkörpert, das sehr modern ist.

Wie wichtig war es für Sie auch die unsympathischen Seiten von Anne Frank zu zeigen?
Steinbichler: Zur Entmythologisierung gehört auch, dass Anne Frank im Film nicht ein Mädchen sein sollte, das alle gleich in den Arm nehmen wollen. Sie sollte vielmehr und ihrem Wesen entsprechend wie eine Distel sein. Mir war es wichtig, dass man mit der Figur erst und nach warm wird. Ich wollte Anne Frank in ihren Widersprüchen zeigen, denn es ist unsere Aufgabe, Menschen unterschiedslos wahrzunehmen und zu lieben.

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