Debatte und Diskussion Jim Knopf und das üble N-Wort

Der Debattenband „Canceln – Ein notwendiger Streit“ diskutiert die Frage, ob es notwendig ist, Texte aus früheren Zeiten an heutige Befindlichkeiten anzupassen – oder ein Akt der Zensur

   In Shakespeares „Othello“     wird der dunkelhäutige Protagonist unter anderem als „schwarzer Schafbock“ und „Dicklippe“ bezeichnet. Das heute   umstrittene Wort „Mohr“ fällt 58 Mal (Aufführung von 2011 mit Mehmet Kurtulus, oben, in der Titelrolle und Harald von Pilchau als Jago)    Foto: dpa

In Shakespeares „Othello“ wird der dunkelhäutige Protagonist unter anderem als „schwarzer Schafbock“ und „Dicklippe“ bezeichnet. Das heute umstrittene Wort „Mohr“ fällt 58 Mal (Aufführung von 2011 mit Mehmet Kurtulus, oben, in der Titelrolle und Harald von Pilchau als Jago)   Foto: dpa

Foto: picture alliance / dpa/Bernd Weissbrod

Langweilen muss sich bei einer Familienfeier heutzutage niemand mehr. Im Gegenteil. Ist der Small Talk abgehandelt und peinliches Schweigen macht sich breit, dann gibt es seit einigen Jahren ein probates Mittelchen, um Stimmung in die lahme Veranstaltung zu bringen: Man werfe nur den Begriff „Cancel Culture“ in die Runde. Der Abend dürfte lebendig, weil relativ kontrovers werden.

Wie kontrovers dieses Thema auch in der breiteren Öffentlichkeit, vor allem in der Welt der Literatur, diskutiert wird, das lässt sich jetzt in dem empfehlenswerten Sammelband „Canceln – Ein notwendiger Streit“ komprimiert nachlesen. Die zentralen Fragen: „Wie unterscheidet sich Canceln von Kritik?“. Und: „Ist das Canceln von Literatur grundsätzlich falsch? Manchmal notwendig? Immer richtig?“ Dabei, so heißt es weiter, suche man mit der Veröffentlichung durchaus auch den Streit, „aber nicht den erbitterten“.

Polarisierte Diskussion

Dieser Ansatz scheint angesichts einer oft polarisierten Diskussion sehr vernünftig, wie kürzlich die Debatte um Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ erneut zeigte (der GA berichtete). Und so behandelt die Essay-Sammlung in pointierten Beiträgen vor allem literarische Werke, die wegen angeblich oder tatsächlich diskriminierender Inhalte immer wieder in der Kritik stehen: Heinrich von Kleists Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ über einen Sklavenaufstand in der Karibik zum Beispiel. Oder auch William Shakespeares vielerorts hoch umstrittenes Drama „Othello“, „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende oder die Debatte um die Übersetzung des Gedichts „The Hill We Climb“ der afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman.

Entsprechend vielfältig ist auch das Meinungsspektrum in dem vorliegenden Band. Der in der Cancel-Debatte oft zitierte Zeit-Korrespondent Ijoma Mangold zum Beispiel trifft durchaus einen Punkt, wenn er konstatiert, die Cancel-Aktivisten hätten in den letzten Jahren „sehr gut davon gelebt, dass ihre Meinung und ihre Empörungsbereitschaft als ganz natürliche Haltung und Reaktion moralisch sensibler Seelen gewertet wurden.“ Mangold weiter: „Hinter der Cancel Culture steckt die seltsame Vorstellung, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur das Richtige und Gerechte gesagt würde, nicht mehr das Falsche und Verwerfliche.“

Sensible Textanalyse

Dem stellt die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan eine nachdenklich-tiefschürfende Analyse von Michael Endes Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ entgegen. Ein Buch, dessen antirassistische Intention für die meisten Leserinnen und Leser erkennbar ist, ohne dass man die rassistischen Stereotype leugnen könnte (unter anderem das sogenannte N-Wort).

Sensible Kritik übt die Autorin an genau diesen Stereotypen, vor allem an den Zeichnungen, die Jim Knopf zeigen. Dardan sieht darin „eine abwertende Darstellungsform, die inzwischen auch in Deutschland als rassistisch erkannt wird.“ Und was sie an Einzelheiten aus Endes Buch zitiert, das darf man schon rassistisch nennen. Etwa wenn es über Jim Knopf heißt, dass er sich nicht waschen mag, weil er „ja sowieso schwarz war und man gar nicht sehen konnte, ob sein Hals sauber war oder nicht“. Lokomotivführer will Jim Knopf laut der von Asal Dardan zitierten Werkausgabe deshalb werden, „weil dieser Beruf so gut zu seiner Haut passte“.

Ein kleines Gedankenexperiment: Wer als Erwachsener ein Buch mit solchem Text heutzutage etwa afrodeutschen Kindern vorlesen würde, der müsste schon über ein sehr robustes Naturell verfügen.

In eine ähnliche Kerbe scheint auch der FAZ-Herausgeber Jörg Kaube in seinem Beitrag über eines der berühmtesten Dramen von William Shakespeare zu schlagen: „Othello – Der Mohr von Venedig“ aus dem Jahre 1604. Zur Erinnerung: Es geht um den dunkelhäutigen Feldherrn der Lagunenstadt, der Opfer einer Intrige seines Gegenspielers Jago wird. Aus unbegründeter Eifersucht tötet er seine Ehefrau Desdemona und sich selbst. Kaube: „Mit der Löschung des Untertitels wäre es nicht getan.“ Denn 58 Mal verwende Shakespeare das heute umstrittene Wort Mohr. Mehr noch: Im Verlauf des Stücks wird die Titelfigur von Seiten seiner Gegner mit einer „ganzen Skala rassistischer Unterstellungen“ (Kaube) charakterisiert: „alter schwarzer Schafbock“, „Teufel“, „Berberhengst“, „lüsterner Mohr“, oder „Dicklippe“. Die Botschaft hinter diesen bösartigen Zuschreibungen, so resümiert Jörg Kaube kritisch: „Der Mohr ist triebhaft, geil, ein Tier, hässlich und fremd.“

Als das Stück 1822 in Baltimore aufgeführt wurde, schoss angeblich ein Zuschauer auf den Othello-Darsteller. Begründung: Er werde es nicht erlauben, dass ein Schwarzer eine weiße Frau ermorde. In den USA zum Beispiel, so berichtet Kaube, gebe es inzwischen Schauspielschüler, die sich weigern, das Stück einzuüben.

Was überrascht: Jörg Kaube ist dennoch gegen Textänderungen. Denn Shakespeares Drama zeige gerade durch die ungeschminkte Darstellung von Rassismus, dass Othello erst „durch die Machenschaften des Rassisten zu einem scheinbaren Beleg für dessen Prämissen“ werde. Das Drama „Othello“ zeige Rassismus als „sich selbst erfüllende Prophezeiung“. Und, so könnte man fortsetzen, es entlarvt ihn damit wirksamer, als ein „gereinigtes“ Stück es jemals könnte.

„Niemand mit Verstand und Herz will Literatur verbieten – oder doch?“ Diese Frage der Herausgeber aus dem Vorwort ist in ihrer Offenheit anscheinend ernst gemeint. Man wolle einen „produktiven Streit“ anstoßen, heißt es. Einen Streit, der „dazu zwingt, die eigene Haltung zu hinterfragen und die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, auch eine andere Sicht könne gerechtfertigt sein“.

Diesen konstruktiven Anspruch erfüllt die Neuerscheinung vorbildlich. Denn niemand, ob diskriminierungssensibler Textkritiker oder unbedingter Verteidiger der Kunstfreiheit, bekommt eine platte Bestätigung der eigenen Sichtweise. Das Werk, so lässt sich zusammenfassen, ist wohl für jeden eine Zumutung. Allerdings eine heilsame. Was könnte uns Besseres passieren?

Annika Domainko et al. (Hgg.): Canceln – Ein notwendiger Streit. Verlag Carl Hanser, 229 S., 22 Euro

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