Roman-Kritik Das literarische Vermächtnis von Javier Marías
Bonn · Das große Roman-Vermächtnis des spanischen Autors Javier Marías ist unter dem Titel „Tomás Nevinson“ erschienen. GA-Autor Hartmut Wilmes hat ihn bereits gelesen.
Ich wurde nach alter Schule erzogen und hätte nie gedacht, dass man mir eines Tages auftragen würde, eine Frau umzubringen.“ Doch genau dies geschieht Tomás Nevinson, dem Titelheldin im letzten Roman des kürzlich gestorbenen Javier Marías. Und aus dem Vorläufer „Berta Isla“ weiß man, wer allein dem inzwischen 45-Jährigen so einen Befehl geben kann: Bertram Tupra.
Der hatte den spanisch-britischen Studenten damals in Oxford für den Geheimdienst MI6 geködert, seine Loyalität trickreich erzwungen, ihn zum zweifachen Mörder gemacht und schließlich gegenüber Tomás’ Jugendliebe und Ehefrau Berta für tot erklärt. Als der „Verblichene“ endlich wieder auftauchen durfte, erschien er Frau und Kindern als verblasstes Gespenst.
Tupra hätte allen Grund für Gewissensbisse, doch er ist „einer dieser Menschen, die sich im Gehen den Mantel über die Schulter werfen, ohne sich darum zu kümmern, ob die frei schwingenden Rockschöße jemandem ins Gesicht klatschen“. Also erklärt er dem in einem harmlosen Botschaftsjob geparkten Agenten, dass der Teufelspakt keineswegs beendet sei. Außerdem wisse er: „Es ist unerträglich, draußen zu sein, wenn man einmal drinnen war.“
In einer Kleinstadt im Nordwesten Spaniens soll Tomás 1997 als Englischlehrer anheuern und unter drei verdächtigen Frauen jene identifizieren und „aus dem Bild schaffen“, die sowohl mit der IRA, vor allem aber mit der baskischen Terrorgruppe ETA fatal kollaboriert hat. Für den Spion wird der Fall zum Comeback der Dämonen, zu denen neben Tupra ein tot geglaubter Feind aus alten Tagen zählt.
Ein Agententhriller also, gewiss, aber in hochkomplexer Zeitlupe. Schon „Berta Isla“ war ja kein Actionroman, sondern vor allem eine Geschichte über Macht und Manipulation, über die Qualen des Wartens und die Unmöglichkeit, selbst den vertrautesten Menschen wirklich zu kennen. Tomás also nähert sich im (fiktiven) Provinzstädtchen Ruán den Verdächtigen, einer Restaurantbesitzerin, einer Lehrerkollegin und der schönen Gattin eines Baulöwen. Irgendwie ist es wie früher, nur dass ihm die vorgetäuschten Gefühle und verlogenen Intimitäten nicht mehr ganz so leicht fallen. Der spanische Autor („Mein Herz so weiß“) zeigt, wie blitzschneller Instinkt und Kaltblütigkeit seines Protagonisten einem Hang zu moralischer Reflexion weichen.
Der Auftragskiller muss in allen kruden Details an hingerichtete Berühmtheiten wie Marie-Antoinette und Anna Boleyn denken, fragt sich außerdem, mit welchem Recht sich Geheimdienste zu einer Art Jüngstem Gericht auf Erden aufschwingen. Während Tomás auf Zeit spielt, zitiert Marías Shakespeare und T.S. Eliot, Cabrera Infante und Hemingway herbei. Nebenbei schreit er die blutige Geschichte der ETA und entlarvt Terroristen-Ideologie als Tarnung für schiere Mordlust.
Dies alles geschieht in einer Prosa, der keine Situationsnuance und kein noch so verstohlener Hintergedanke entgeht. Eine Sprache, die wie Wasser über glatt geschliffene Kiesel rinnt und so süchtig macht, dass es fast gleichgültig scheint, wovon erzählt wird. Doch man täusche sich nicht: Die dramaturgisch geschickt platzierten Lunten glimmen weiter. Irgendwann kommt Tupras Ultimatum, Tomás’ Reaktion – und eine entscheidende Volte für ihn und Berta.
Man hätte gern noch viel mehr von diesem mit nur 70 Jahren gestorbenen Ausnahmeschriftsteller gelesen, muss sich nun aber mit diese letzten Meisterwerk trösten.
Javier Marías: Tomás Nevinson. Roman, aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, 732 S., 32 Euro.