Bildung in Deutschland Scout-System soll Bildungsgleichheit ermöglichen

Meinung | Bonn · Deutschland ist strukturell ein funktionierendes und sozial gerechtes Bildungsland. Dennoch ist es Zeit für eine Reform: Ein Scout-System könnte vor allem Kindern aus bildungsfernen Schichten den Weg nach oben weisen.

 Über ein Scout-System ließen sich auch verborgene Potenziale heben, sagt unser Autor.

Über ein Scout-System ließen sich auch verborgene Potenziale heben, sagt unser Autor.

Foto: picture alliance / Marijan Murat

Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Mai wollte der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, eine Bildungsoffensive vorstellen. Die damalige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft habe vehement protestiert, heißt es. „Das würde die Aufmerksamkeit auf die schlechte Bildungssituation in NRW lenken“, schrieb der „Spiegel“-Reporter Markus Feldenkirchen in seiner vielbeachteten Titelgeschichte über den gescheiterten SPD-Politiker Schulz.

Schade, dass Schulz nicht stärker auf Bauch und Intuition hörte, wie er einräumte, und Hannelore Kraft ihren Willen ließ. Es wäre spannend gewesen, im Detail zu erfahren, ob Schulz ein Thema im Angebot gehabt hätte, das mich seit längerem beschäftigt.

Zunächst die Faktenlage: Deutschland ist strukturell ein funktionierendes und sozial gerechtes Bildungsland. Der Zugang zu den Schulen und Universitäten des Landes ist kostenlos. Wer sich anstrengt, kann es weit bringen.

Wie lassen sich Talente entfalten?

Allerdings ist damit nicht automatisch eine Bildungskarriere programmiert, wie Statistiken und Untersuchungen belegen. Akademikerkinder haben es natürlich leichter als Altersgenossen, in deren Familien Bildung keinen Wert an sich darstellt oder aber die Beherrschung der deutschen Sprache keine Priorität genießt. Fraglos schlummern aber auch in diesen Milieus Talente, die sich unter günstigen Bedingungen produktiv entfalten können. Die Frage ist nur: Wie?

Man kann, wie das so üblich ist bei uns, versprechen, mehr Geld ins System zu pumpen, oder das Niveau in den Schulen so lange absenken, bis jeder das Abitur geschenkt bekommt. Weder das eine noch das andere wird Kindern aus – furchtbarer Ausdruck – „bildungsfernen Schichten“ helfen. Hier sind Fantasie und Pragmatismus gefragt. Es ist mir ein Rätsel, warum sich nicht längst, ähnlich wie im Sport, die Idee eines Scout-Systems ausgebildet hat.

Warum wirken nicht an jeder Schule Lehrer mit der erlernten Kompetenz, Talente zu erkennen und zu fördern? Das ist keine leichte Aufgabe, denn sie müssen die Kinder motivieren und möglicherweise deren Eltern Paroli bieten. Die Bildungsemanzipation ihrer Kinder geht oft einher mit einem Prozess der Entfremdung. Nicht jeder kann gut damit umgehen, dass der Nachwuchs ihn intellektuell überflügelt.

Es braucht Eigenleistung

Um solchen Konflikten konstruktiv zu begegnen, braucht es Pädagogen, die ansprechbar sind, überzeugen können und nichts dem Zufall überlassen. Insofern wäre ein institutionalisiertes Scout-System ein Glücksfall: endlich einmal eine Bildungsreform mit Sinn und Verstand.

Anders als in der Märchenerzählung von der staatlich wie mit Zauberhand zu verwirklichenden sozialen Gerechtigkeit ist der Aufstieg durch Bildung nicht ohne Eigenleistung zu haben. Dazu gehören Fleiß, Durchsetzungsvermögen und die Fähigkeit, Frustrationen auszuhalten. Fast jedes vierte Einwandererkind fühlte sich laut einer Studie aus dem Jahr 2013 aufgrund seiner Herkunft in der Schule benachteiligt. Das war das Ergebnis eines Berichts der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS).

Es war bundesweit das erste Mal, dass Benachteiligungen bei Bildung und Arbeit so umfassend untersucht wurden. Die beklagte Diskriminierung, hieß es, fand ihren Ausdruck zum Beispiel darin, dass Lehrer dazu neigten, Kinder mit Migrationshintergrund oder niedriger sozialer Herkunft selbst bei gleicher Leistung seltener für das Gymnasium zu empfehlen.

Hier könnte ein Scout-System ansetzen, ergänzt durch bildungsfördernde Maßnahmen. Der deutsch-iranische Experte Armand Farsi hat neben einer besseren Mischung von Deutschen und Ausländern in Kitas und Schulen regelmäßige Theaterbesuche empfohlen sowie Lesestunden und kostenfreien Unterricht, um klassische Musikinstrumente zu erlernen.

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