Talkrunde bei „Anne Will“ USA-Korrespondent: Journalisten werden massiv behindert

Bonn · Warum sind die Proteste gegen Rassismus in den USA heftiger und ausdauernder als zuvor? Anne Will diskutiert mit ihren Gästen darüber, welche Rolle Donald Trump in der Zeit nach George Floyds Tod spielt. Die Runde blickt auch auf Deutschland.

Talk bei Anne Will  mit Cem Özdemir
Foto: obs/ARD Das Erste

Darum ging es

In den USA und auch in Europa wird weiter gegen Polizeigewalt und Rassismus protestiert. Anne Will möchte am Abend von ihren Gästen wissen: Wie viel Verantwortung trägt Trump für die Eskalation? Die Runde diskutiert über die Situation in den USA, blickt aber auch nach Deutschland.

Die Gäste

  • Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, CDU
  • Cem Özdemir, Bundestagsmitglied, Bündnis 90/Die Grünen
  • Alice Hasters, Autorin des Buches “Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen - aber wissen sollten”
  • Samira El Ouassil, Kolumnistin und Autorin
  • Christoph von Marschall, diplomatischer Korrespondent, “Der Tagesspiegel“
  • Stefan Simons, Korrespondent der Deutschen Welle in Washington

Der Talkverlauf

Je stärker die Bewegung wird, so Anne Will zum Auftakt, um so größer sei die Hoffnung, dass sich “im Kampf gegen Rassismus wirklich nachhaltig etwas ändern könnte und müsste”. Spült die Situation womöglich sogar den amerikanischen Präsidenten aus dem Amt, will die Moderatorin wissen und fragt sich selbst und ihre Runde: Will Donald Trump überhaupt Einigkeit in seinem Land?

Ihre Gäste einigen sich auf ein eindeutiges “Nein”. Samira El Ouassil findet, von Anfang an sei allen klar gewesen, dass Trump jemand ist der nicht nur polarisiere sondern die Sehnsucht all jener, die sich Polarisierung wünschen erfüllt. “Er ist eher der Antipräsident der Unvereinigten Staaten”, sagt die Autorin.

Norbert Röttgen sieht das ähnlich: “Anstatt Präsident aller sein zu wollen - er behauptet nicht einmal, das sein zu wollen - macht er alles noch schlimmer”, so der CDU-Politiker. Der Kampf gegen den Rassismus in den USA ist nicht neu, ebenso wenig wie Plünderungen und Gewalt. Doch trägt Trump durch sein Verhalten und seine Anordnungen - wie die Tränengasattacke auf friedliche Demonstranten, während er mit einer Bibel für Kameras posiert - eine Mitschuld daran, dass derzeit länger und besonders erbittert gekämpft wird?

Für Alice Hasters trägt der Präsident sehr wohl zur Eskalation bei: “Es fehlt eine Führungsfigur die schlichtet”, so die Autorin. Zudem spiele das Zusammentreffen von Corona und Polizeigewalt eine Rolle: “Afroamerikaner sind von der Pandemie überproportional betroffen, durch Arbeitslosigkeit aber auch in den Todeszahlen”, sagt Hasters. Alles passiere derzeit so schnell, dass sie selbst erst beginne zu verstehen, was diesmal anders sei. “Der strukturelle Rassismus wurde durch die Pandemie sehr deutlich”, sagt sie während der interessanten und nachdenklichen Debatte. Zudem beschleunigten sich die Ereignisse durch die extreme Situation der Pandemie. “Im Zusammenführen der Krisen nimmt der Widerstand eine besondere Dynamik an.”

Christoph von Marschall warnt, es sei eine Wunschvorstellung zu glauben, Trump werde die Wahl durch die momentane Situation bedingt verlieren. Sicher könne es “zu einem Trump gefährdenden Dammbruch kommen”, sagt der Tagesspiegel-Journalist, das müsse aber keineswegs der Fall sein. “Die Polarisierung nützt Trump, die Ausschreitungen ebenso.” Er wolle überhaupt nicht die Mehrheit überzeugen, dass er alles richtig mache. Die Wahl werde hauptsächlich “über eine Mobilisierung entschieden” - darüber, wer die meisten Wähler an die Urnen bringe. Im Moment liege Joe Biden vorne, aber schon ein paar Stimmungsumschwünge würden für einen komplett anderen Ausgang genügen.

Cem Özdemir mahnt ebenfalls zu Vorsicht bei Wahlprognosen, allerdings gebe es ein wenig Hoffnung, “dass sich das konservative Establishment absetzt von Trump”. Möglicherweise rege sich sogar bei mehr Republikanern jetzt die Einsicht, dass das nicht die Partei sei, die sie wollten.

Wenig Optimismus verbreitet Stefan Simons, Deutsche-Welle-Journalist, der während Live-Schalten in Minneapolis selbst von der Polizei eingeschüchtert und bei der Arbeit behindert wurde. Zugeschaltet aus Washington sagt Simons: “Wir sind im Vergleich glimpflich davon gekommen.” Andere Kollegen seien ernsthaft verletzt und mit Tränengas besprüht worden, eine Kollegin habe durch Gummigeschosse von Polizisten ihr Auge verloren.

Die Polizei von Minneapolis habe eine besonders miserable Beziehung zu ihrer eigenen Gesellschaft, zur afroamerikanischen Bevölkerung und inzwischen auch zur Presse: “Die Polizei will nicht, dass Presse erstens präsent ist und zweitens dokumentiert, was da alles schief geht”, sagt der Reporter, der seit 20 Jahren aus den USA berichtet. Dass Journalisten zu Trumps Zeiten besonders massiv behindert werden, ist für ihn kein Zufall: “Ich glaub schon, dass der Fisch da vom Kopf her stinkt”, so Simons. “Wenn der Präsident es quasi in die Hirne der Bevölkerung einhämmert, dass wir die Lügenpresse sind und Fake News verbreiten und Volksfeinde sind”, sagt Simons, habe das natürlich einen Effekt, auch auf die Polizei und ihre Strukturen. In einem Präsidentschaftswahljahr sei nur sicher, dass nichts sicher sei. “Das ist eine andere Welt”, sagt er. Auch Simons ist überzeugt, dass Covid-19 eine Rolle spielt: Die Pandemie habe die schwarze Bevölkerung überproportional hart getroffen. “George Floyds Tod hat jetzt eine Massenwut gebracht, eine Wut die ich bisher so nicht gesehen habe.”

El Ouassil kann der derzeitigen Situation aber auch Positives abgewinnen: Rassismus werde nicht schlimmer, er werde nur mehr gefilmt. Die Sichtbarkeit der rassistischen Gewalt sei auch eine Art Befreiungsschlag: “Endlich gab es den Beweis, man konnte nicht mehr dagegen anreden”, sagt sie. “Das hat alles in Gang gesetzt: Vier Monate Corona-Pandemie, vier Jahre Trump-Krise, 400 Jahre Rassismus.” Journalist von Marschall erinnert daran, das inzwischen mehr Schwarze studieren, auch sonst habe sich deren Situation durchaus verbessert, wenn auch nicht für genügend Menschen. “Es ist unerträglich, wie langsam es sich bewegt, aber es ist ja nicht nicht so, als habe sich nichts bewegt.”

Cem Özdemir holt die Debatte zuletzt zurück nach Deutschland. “Die Weißen müssen ihren Rassismus aufarbeiten”, fordert er. Sie müssten sich die Frage stellen, in welchem Land sie leben wollten. “Die Mehrheit muss sich die Frage stellen: Sind wir Vereinigten Staaten von Amerika oder sind wir eine Gesellschaft, in der wir nebeneinander her leben und wo es ein Oben und Unten gibt?” Und einen Teil dieser Frage könne man sich auch hier in Deutschland stellen.

Anne Will wirft die Zahl von 8585 Straftaten im Bereich der Hasskriminalität in die Runde - Delikte, die vor allem rassistisch oder antisemitisch motiviert waren und deutlich machten, dass auch Deutschland in diesem Gebiet ein Problem hat. Natürlich sei die Polizei in Deutschland anders strukturiert, es gebe weniger Todesfälle und weniger Waffengewalt, sagt Alice Hasters. Es gebe aber durchaus ein institutionelles Problem: Wenn sie sich anschaue, dass “fast alle Menschen, die ich kenne, die nicht weiß sind, schon in eine verdachtsunabhängige Personenkontrolle gekommen sind”. Das könne kaum Zufall sein. Auch die Verstrickungen der Polizei in die rechtsextreme Szene seien unbefriedigend aufgeklärt. Da werde “nicht so recht hingeschaut”.

Röttgen ist der Ansicht, es gebe im Unterschied zu den Staaten immerhin „in Deutschland einen breiten gemeinschaftlichen Willen”, das Problem anzugehen. Zudem gebe es einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rassismus. Özdemir sagt, diesen Ausschuss gebe es erst seit mit Walter Lübcke ein Regierungspräsident umgebracht wurde. Er erinnert an die Geschehnisse in den 90er Jahren in Rostock-Lichtenhagen, wo Menschen öffentlich Fahrgemeinschaften bildeten, um in Rostock Menschen umzubringen, “während ein Polizeichef daneben stand, um mit potentiellen Mördern zu verhandeln”. “In den 90er Jahren hat der Staat absichtlich weggeschaut”, so der Grünen-Politiker als Erinnerung daran, wie wichtig es sei, rechtzeitig einzugreifen und hinzuschauen.

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