Coelho schreibt für den GA Was Frieden bedeutet

Für GA-Leser: Eine noch unveröffentlichte Geschichte des brasilianischen Autors Paulo Coelho.

 Mit Pfeil und Bogen und Fernrohr: Dieses Bildmotiv stellte Paulo Coelho zur Illustration seines Textes zur Verfügung.

Mit Pfeil und Bogen und Fernrohr: Dieses Bildmotiv stellte Paulo Coelho zur Illustration seines Textes zur Verfügung.

Foto: Diogenes

Es war einmal ein König, in dessen Reich alle glücklich waren, während alle benachbarten Königreiche ständig Krieg führten.
Der König rief seinen Berater zu sich.
„Wie kommt es“, fragte der König, „dass nur in unserem Land Frieden herrscht?“
„Weil alle Menschen zufrieden sind.“
„Aber warum sind alle zufrieden?“
„Weil jeder, was er tut, voller Freude macht.“
„Es ist gefährlich, von Krieg umgeben zu leben“, dachte der König. Womöglich sind die Menschen in den anderen Reichen es irgendwann einmal müde, sich gegenseitig zu bekämpfen, und greifen am Ende dann uns an. Wie können wir unseren Nachbarn beibringen, was Frieden bedeutet?“

Eines Tages saß der König an einem See und schaute auf das Wasser. Da kam ein Boot vorbei, und der König fragte den Mann, der es ruderte:
„Hast du eine Idee, wie man unsere Nachbarn davon überzeugen kann, wie wichtig Frieden ist?“
„Alle unterschiedliche Sprachen sprechen“, meinte der Mann. „Daher weiß ich nicht, wie man es ihnen verständlich machen könnte.“

Der Mann im Boot hatte recht. Doch nachdem der König den ganzen Nachmittag lang auf den See geschaut hatte, fiel ihm eine Lösung ein. Am nächsten Tag rief er die gesamte Bevölkerung seines Reiches zusammen. „Derjenige unter euch, der bis zum Ende des Jahres das beste Bild über den Frieden gemalt hat, erhält zehn Goldstücke.“
Und seine Untertanen machten sich freudig ans Werk.

Als das Jahr zu Ende ging, hatten alle ein Bild über den Frieden abgegeben, weil sie hofften, den begehrten Preis zu gewinnen.
Es kamen die unterschiedlichsten Motive zusammen, denn jeder hatte sich an dem Wettbewerb beteiligt:
der Sticker
der Bäcker
der Soldat
der Hippie
der Mönch
der Mystiker
der beste Schüler und der
schlechteste.

Der König erhielt so viele und so verschiedenartige Bilder, dass es ihm schwerfiel, zu entscheiden, welches von ihnen den Frieden denn am besten darstellte.
Nachdem er alle Bilder gründlich betrachtet und beurteilt hatte, rief der König schließlich seine Untertanen wieder zu sich, um seine Entscheidung zu verkünden.

„Ich danke euch für eure Mühe“, sagte der König. „Alle eure Werke sind großartig, weil sie mit Liebe geschaffen wurden. Doch da es nur einen Preis gibt, musste ich mich für ein einziges Bild entscheiden. Dieses Bild hier hätte fast den Preis gewonnen. Es zeigt die Kraft, die wir in den Bergen erleben können, die Energie, die uns die Sonne verleiht, die Geborgenheit eines Heimes, den Genuss, den Essen bereitet, den friedvoll daliegenden See, der wohltuende Schatten des Waldes, das fröhliche Zwitschern der Vögel und die Unschuld des Kindes.

Es ist ein wunderschönes Bild, und ich hätte ihm ganz sicher den Preis zuerkannt, wäre da nicht noch ein anderes Bild gewesen, das, wie ich glaube, wahrhaft den Frieden abbildet.
Die Leute waren entsetzt, als sie sahen, auf welches Bild die Wahl des Königs gefallen war.
„Dieses Bild soll der König ausgewählt haben? Ich glaube, unser König ist wahnsinnig geworden“, sagte eine Frau.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass so etwas Hässliches den Frieden darstellen soll“, sagte der Bäcker.
„Vielleicht sollten wir einen Kunst­experten beiziehen“, schlug der Hofastrologe vor, einer der engsten Berater des Königs.

„Ihr mögt durchaus denken, dass ich weder etwas von Kunst verstehe, noch etwas über den Frieden weiß“, sagte der König. „Als ich dieses Bild zum ersten Mal sah, war auch ich entsetzt. Die Natur scheint völlig in Aufruhr zu sein. Aber wenn man sich diesen windgepeitschten Baum genauer anschaut, so wie ich es getan habe, dann wird man sehen, dass es dort einen Ast gibt und auf diesem Ast ein Nest und in dem Nest einen kleinen Vogel, der freudig den Schnabel aufsperrt, weil seine Mutter ihm Futter bringt. Für mich ist dies die wahre Bedeutung von Frieden: Wenn dein Herz voller Freude ist und du mit dir im Reinen bist, wenn du für deine Nächsten sorgst und alles tust, damit es ihnen gut geht, ist es gleichgültig, was um dich herum geschieht. Denn dann hast du in Liebe alle echten Schwierigkeiten überwunden, und das bedeutet Frieden.

Das Bild reiste durch viele andere Königreiche, und ganz allmählich wurde die Botschaft des Königs verstanden, und Friede erfüllte die Herzen.

Paulo Coelho: Was Frieden bedeutet. © Paulo Coelho/Diogenes Verlag, Zürich. Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann.

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