Buchbesprechung: Novelle von Anthony Duerr Wenn Erinnerung im Nebel versinkt

Demenzdrama, Sozialstudie und Thriller: „Memory Wall“ des amerikanischen Autors Anthony Doerr. Der US-Autor, für seinen großartigen Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ mit dem Pulitzer-Preis geehrt, brilliert als Virtuose der schlanken Form.

 Anthony Doerr wurde 1973 in Cleveland geboren.

Anthony Doerr wurde 1973 in Cleveland geboren.

Foto: picture alliance / dpa

„Vor einem Moment noch, da war sie sich vollkommen sicher, hat sie etwas Wichtiges getan. Etwas, bei dem es um Leben und Tod ging. Aber sie kann sich nicht erinnern, was es war.“ Mehr als diese drei Sätze braucht Anthony Doerr nicht, um das Demenz–Elend der 74-jährigen Witwe Alma auszumessen. Sie ahnt zwar noch, was der Doktor von ihr hören will, doch sie steht ratlos vor der Zettelwand, an der ihr Mann Harold seine Fossilienfunde dokumentierte.

Doch genau dieser Entdeckungen wegen steht nachts manchmal ein großer Kerl im Garten ihres Hauses in einem Vorort von Kapstadt. Schlimmer noch, dieser Roger dringt ein und bringt den schwarzen Jungen Luvo mit, der Alma auf seltsame Weise verbunden ist. „Sie kommen. Sie kommen, und sie meinen es nicht gut“, ist der Heimgesuchten klar.

Ein kalter Science-Fiction-Hauch zieht durch Anthony Doerrs Novelle „Memory Wall“. Während Alma über Elektroden im Kopf „Erinnerungskassetten“ ihrer sieben Jahrzehnte abspielt, ist Luvo dank eingepflanzter Adapter ein „Erinnerungszapfer“. Er soll für Roger herausbekommen, wo Harold das enorm wertvolle Skelett eines 260 Millionen Jahren alten Raubtiers gefunden hat.

Der US-Autor, für seinen großartigen Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ mit dem Pulitzer-Preis geehrt, brilliert hier auch als Virtuose der schlanken Form. Beiläufig streift er Südafrikas Sozialgefälle zwischen den Nobelresidenzen am Kap und dem Township von Khayelitsha. Dort wohnt Almas Hausdiener Pheko und muss in der Barackenklinik eine ganze Nacht durch wachen, bis sein kranker Sohn an die Reihe kommt.

In den Kassetten seiner Herrin zieht deren bewegtes Leben vorbei – von den gemeinsamen Makler-Erfolgen mit Harold bis zu ihrem Befremden über den Forscherdrang des pensionierten Gatten. So ist dieses kleine Prosawunderwerk vieles in einem: erbarmungslos-einfühlsames Protokoll einer geistigen Dämmerung, kontrastscharfes Gesellschaftspanorama und Thriller. Irgendwann nämlich macht sich Luvo auf in die Karoo-Wüste, zum Swartbergpass, wo Harold wohl sein Fossil fand, das er nicht bergen konnte. Doerr beschwört das Naturerlebnis („Nachtblumen, die dem Mond ihre Blüten öffnen“) und den Zauber jenes Prozesses, der prähistorische Weltgeschichte in Stein presst. Wenigstens etwas, das nicht ausgelöscht wird.

„Ohne Gedächtnis sind wir nichts“, schrieb Luis Buñuel in seinen Memoiren. Diesen Satz stellt Doerr diesem Buch voran, das die Traurigkeit der Demenzverluste keineswegs beschönigt. Und das dennoch seltsam tröstlich wirkt, weil es dem Tragisch-Unvermeidlichen eine fantastische Sprachschönheit gibt.

Anthony Doerr: Memory Wall. Novelle, deutsch von Werner Löcher-Lawrence. C.H. Beck, 135 S. 14,95 Euro.

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