TV-Serie nach 34 Jahren eingestellt Wie die Lindenstraße zum deutschen Kulturgut wurde

Bonn · Die ARD stellt die einst skandalumwitterte Kultserie nach 34 Jahren ein. In der in Köln-Bocklemünd produzierten Soap steckte immer auch ein großes Stück Region. Einmal gab es sogar Ärger mit der Bundesregierung.

Es ist viel passiert, seitdem die "Serie zum Einschlafen" am 8. Dezember 1985 zum ersten Mal über Deutschlands Mattscheiben flimmerte. "Die Leute von der Blindenstraße" oder "Wer will so was sehen?", lauteten weitere Schlagzeilen der TV-Kritiker anno 1985 zur Folge eins der Kultseifenoper Lindenstraße. Vom Feuilleton früh totgesagt, lebt die Serie seit 34 Jahren. Eine überraschende Pressemitteilung am Freitag um 12 Uhr mittags macht ihr nun den Garaus. Im März 2020 flimmert die letzte Folge über den Bildschirm.

Die letzte Klappe für Mutter Beimer und Kollegen begründet ARD-Programmdirektor Volker Herres schlicht mit der Finanzierung. "Wir müssen nüchtern und mit Bedauern feststellen: Das Zuschauerinteresse und unsere unvermeidbaren Sparzwänge sind nicht vereinbar mit den Produktionskosten für eine solch hochwertige Serie", so Herres. Nur wenige Sätze zuvor hatte er die langlebigste wöchentliche Serie in Deutschland noch als "Ikone im deutschen Fernsehen" und als "Spiegelbild der Geschichte und Entwicklung unserer Republik" geadelt.

Harmloser Anfang

Erst ein paar Takte dumpfe Mollklänge, dann setzt die liebliche Mundharmonika ein - Anfang und Ende jeder Lindenstraße-Folge. Alles hat so harmlos angefangen: Kleinbürgermilieu, Kinderkrankheiten, das ganz normale Leben. Der Mikrokosmos der nicht mehr als 150 Meter langen Filmkulisse in Köln-Bocklemünd, die München darstellen soll, wird zur gefühlten Heimat für Millionen Zuschauer. Niemand ahnt Mitte der 1980er Jahre, dass die Endlosserie zum deutschen Kulturgut werden sollte, das bereits Einzug ins Bonner Haus der Geschichte gehalten hat - zumindest als Modell.

Eine seichte Seifenoper war die Lindenstraße nie: Aids-Tod schon 1988, Kindesmissbrauch, Teenagerschwangerschaft, Pfarrermord mit Bratpfanne, Selbsttötung und Nazis - es gibt nichts, was in der Lindenstraße nicht vorkommt. Es ist ein lieb gewonnenes Ritual für Millionen Fernsehzuschauer: sonntags, pünktlich um 18.50 Uhr. Die Fans lieben, dass die halbe Stunde Fiktion unbeschreiblich aufrüttelnd und bunt, aber gleichzeitig aufregend alltäglich ist. Nicht wie die täglichen Soaps mit den Problemen reicher Leute, die nie arbeiten und nur Erfolg und Seitensprünge haben. In der Lindenstraße gibt es alle möglichen Leute, wie in der Gesellschaft - Hausfrau, Stricher, Doktor, Friseurin.

300 wissenschaftliche Arbeiten über die Serie

Fast 33 Jahre sind seit der ersten Folge vergangen - was hält heutzutage schon noch 33 Jahre? Wäre es nach den Kritiken gegangen, hätte die Lindenstraße gleich wieder aufhören können. Und heute? Mehr als 300 wissenschaftliche Arbeiten, darunter eine Habilitation, haben versucht, das Phänomen Lindenstraße zu ergründen. Ein Beispiel Ende der 1980er: Aufregung um eine Lindenstraßenfolge, in der Umweltschützer gegen Atomkraft protestieren. "Die Umweltschutzorganisation ,Robin Wood' hat heute Mittag mit einer Aktion auf die Gefahren der Kernenergie hingewiesen", hieß es in einer Ausgabe der Tagesschau, die in der Lindenstraße gezeigt wurde. Die Protestaktion fand wirklich statt - im Auftrag der Lindenstraßen-Macher.

Nach der Ausstrahlung der Serie um damals noch 18.40 Uhr vermeldete die ARD-Tagesschau um 20.15 Uhr die Meldung von der Protestaktion vor dem Haus des Umweltministers noch einmal - viele rieben sich verdutzt die Augen: Waren sie gerade in der realen oder in der fiktiven Welt? Dafür gab es Ärger mit der Bundesregierung.

Immer wieder verknüpft die Serie Fiktion und Realität. Für die Bundestagswahl 2005 wurden etwa drei Versionen gedreht, je nach Ergebnis. Kaum waren die ersten Prognosen um 18 Uhr verkündet, schnitt Cutter Oliver Grothoff die zutreffende Version in die aktuelle Folge, die dann nur Minuten später vor der Elefantenrunde im Ersten lief.

Immer politisch aktuell

Verblüffend, vor allem verblüffend einfach, ist das Mittel der Aktualität in der Deutschen liebsten Seifenoper. Immer donnerstags steht der Drehtag im Zeichen der Aktualisierung: Eine Szene wird mit der Nachricht der Woche aufgepeppt. Ob Tsunami, Naziaufmärsche in Chemnitz oder das Hin und Her um den Rücktritt des Seehofer Horst als CSU-Chef - die Lindensträßler hören das Ereignis scheinbar zufällig im Radio und geben den passenden Kommentar ab. Dabei gehen in Köln die Uhren anders: An Weihnachten wird an der Osterfolge gedreht, im Januar kleben Studenten kanadische Blätter an kahle Bocklemünder Bäume, um die Illusion des nahen Frühlings zu schaffen. Denn: Gedreht wird drei Monate im Voraus.

Früh produzierte die "Lindenstraße" Skandale, als diese im Fernsehen noch möglich waren. Als publicitygierige C-Promis noch keine Känguruhoden im Dschungelcamp verspeisten, Splitternackte auf Urlaubsinseln reisten, Busenvergrößerungen nicht abendfüllend gezeigt oder Kandidaten nicht im Televisionszoo "Big Brother" bei der Paarung gefilmt wurden, ließen die "Lindenstraßen"-Macher um Chefautor Hans W. Geißendörfer eine Serienfigur an Aids sterben. Und 1990, heftig diskutiert: der erste Kuss zweier Schwuler im deutschen Serien-TV.

"Die Tabuthemen sind nicht deswegen eingebaut worden, um für Schlagzeilen zu sorgen oder die ,Lindenstraße" ins Gerede zu bringen, sondern Geißendörfer hat erkannt, dass es notwendig ist, über ein bestimmtes Thema zu schreiben und zu drehen", urteilte Fernsehkritiker Markus Ehrenberg. Die politischen Botschaften haben etwas abgenommen in den vergangenen Jahren, dennoch gilt das Geißendörfer-Wort: "Ich glaube, dass der Zuschauer kapiert hat, dass wir ihn nicht bescheißen, dass wir ehrlich sind und keine spekulativen Storys erzählen wollen."

15 Millionen schalteten einst ein

Doch: Vermutlich sind ebenjene Skandale und Skandälchen der Vergangenheit der Grund dafür, dass das Zuschauerinteresse in den zurückliegenden Jahrzehnten spürbar gesunken ist. Die Lindenstraße kann so gut wie keine Tabus mehr brechen, die nicht schon vom Privatfernsehen, selbst ernannten Youtube-Influencern oder Jan Böhmermann gebrochen worden sind. Schnellte das Interesse an der Lindenstraße in den 1980er Jahren auf Spitzenwerte um die 15 Millionen Zuschauer, schalten jetzt seit einigen Jahren nur noch etwa um die zwei Millionen Menschen ein.

Ein gehöriges Stück Region bekommen die Lindenstraßen-Fans übrigens frei Haus: Der in Endenich lebende Springmaus-Erfinder Bill Mockridge spielte von 1991 bis 2015, von Folge 301 bis 1559, den Reisebürobesitzer Erich Schiller, der mit Mutter Beimer in den zweiten Hafen der Ehe schifft. Georg Uecker (Dr. Carsten Flöter) ging in Endenich zur Schule. Wo heute die Springmaus-Künstler auftreten, sei seine Schulturnhalle gewesen, berichtete er. Und Daniela Bette (Angelina Dressler) lebt in Sankt Augustin.

Spannend wird an der Lindenstraße jetzt nur noch, was Programmdirektor Herres als "fulminantes Finale" ankündigt: Stirbt Helga Beimer beim Spiegeleierbraten am Herd oder kehrt der fiese Olli Klatt alias Ballermannsänger Willi Herren als durchgeknallter Extremist zurück, der ein Flugzeug in die Lindenstraße steuert? Den Autoren qualmt der Kopf. Keine Frage, es wird noch viel passieren.

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