Ein Geist wie ein Florett Zum 275. Geburtstag von Georg Christoph Lichtenberg

Bonn · Er war Forscher und Philosoph. Vor allem freilich gilt er als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus. Seine zeitlos klugen Sätze sammelte er in seinen „Sudelbüchern“. Vor 275 Jahren wurde Georg Christoph Lichtenberg geboren.

 Die Elektrizität der Mädchen: An den großen und kleinwüchsigen Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg erinnert erst seit ein paar Jahren dieses Denkmal auf dem Göttinger Marktplatz.

Die Elektrizität der Mädchen: An den großen und kleinwüchsigen Gelehrten Georg Christoph Lichtenberg erinnert erst seit ein paar Jahren dieses Denkmal auf dem Göttinger Marktplatz.

Foto: dpa

In Zeiten von Fake News kann man sich einen solchen Satz schon mal durch den Kopf gehen lassen: „Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt.“ Die ebenso kluge wie zeitlose Erkenntnis stammt von Georg Christoph Lichtenberg. Der hat ein eigenartiges Schicksal. Die von ihm geprägten Aphorismen sind weitaus bekannter als er selbst, sie haben sich sozusagen verselbstständigt, ohne ihren Autor mitzunehmen. Es gibt wahrscheinlich kaum einen in der Rede geschulten deutschen Politiker, der nicht seinen Lichtenberg im Repertoire hätte.

Zum Beispiel mit dieser Wendung: „Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“ Und wenn ein mehr oder minder entschlossener Blick in die Zukunft gewagt werden soll, dann geht das immer noch am besten mit der Brille Lichtenbergs: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“

Wer sich auf Lichtenberg einlässt, auf den Physiker, Mathematiker, Professor, Schriftsteller, Aufklärer, Aphoristiker, der begibt sich in ein Labyrinth der originellsten Gedankengänge, die jemals in deutscher Sprache festgehalten wurden. Lichtenberg lässt die Öffentlichkeit an allem teilnehmen, was ihn bewegt.

Notizen über Gott und die Welt

Er schreibt auf und schreibt auf: Essays, Streitgespräche, wissenschaftliche Abhandlungen und vor allem Notizen über Gott und die Welt, über Alltägliches und Besonderes, über Politisches und Intimes, über Banales, Philosophisches, um die Ecke Gedachtes wie zum Beispiel: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Allein seine zumeist spontanen Randbemerkungen, die er in seinen selbstironisch so genannten „Sudelbüchern“ sammelte, bringen es heute im Druck auf gut 1500 Seiten.

Eine Fundgrube mit Tausenden von Notaten voller Lebensweisheiten, Dokumente eines aufklärerischen Geistes, der die Zeit präzise beobachtet und Leser zu Mitdenkern macht. Manchmal reicht schon eine kleine Frage: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der Schriftsteller und Zeichner Robert Gernhardt einige der Sudelsprüche mit seinen Zeichnungen populär gemacht.

Der österreichische Schriftsteller und Kulturphilosoph Egon Friedell, der sich intensiv mit den „Sudelbüchern“ beschäftigt hat, kommt zu einem schönen Ergebnis: „Lichtenberg“, sagt er, „hat das Zeitlose aller vollkommen freien Geister. Sein Mangel an jeglicher Einseitigkeit macht ihn für jedermann zugänglich. Von Kant hat Goethe gesagt, wenn er ihn lese, so sei ihm zumute, als trete er in ein helles Zimmer.Auf wenige deutsche Schriftsteller könnte dieses Bild mit ebensolcher Berechtigung angewendet werden wie auf Lichtenberg. Nur besitzt dieses Zimmer noch allerlei Winkel, Erker und Gänge, die in die absonderlichsten Polterkammern führen.“

Das 17. Kind einer Pfarrersfamilie

Die merkwürdigste und zugleich dunkelste Ecke darin ist freilich Lichtenbergs den Antisemitismus streifende ambivalente Haltung den Juden gegenüber. Georg Christoph Lichtenberg wird am 1. Juli 1742 im hessischen Ober-Ramstadt bei Darmstadt geboren. Er ist das 17. und jüngste Kind in einer Pfarrersfamilie, der Vater tauft das „Söhnlein“ sicherheitshalber noch in der Geburtsstunde – „wegen Schwachheit“. Diese Schwachheit wird Lichtenberg ein Leben lang begleiten.

„Fast nie krank“, stellt er seine Selbstdiagnose, „aber immer kränklich“. Er leidet unter einer starken Verkrümmung des Rückgrats, Höckerbildung und Zwergenwuchs inklusive. Über 1,43 Meter kommt er nicht hinaus. Den „lüttgen Professor“, den kleinen Professor, nennt man ihn später in Göttingen – eine Bezeichnung, die sich durchaus mit viel Respekt verbindet.

Lichtenberg selbst rückt die körperlichen Defizite in die gewohnte selbstironische Distanz: „Weil er seinem Vater nun einmal bei der Zeugung misslungen war, so getraute sich kein Kupferstecher nachher noch einmal sein Heil mit ihm in Kupfer zu versuchen.“

Im Haushalt der Lichtenbergs, die drei Jahre nach der Geburt von Georg Christoph von Ober-Ramstadt nach Darmstadt ziehen, muss es munter zugegangen sein. Nicht nur wegen der vielen Kinder. Der Vater ist das, was man einen aufgeklärten Pastor nennen könnte, er hat einen Hang zur Naturwissenschaft. Das bleibt haften beim jungen Lichtenberg.

Die beste Erziehung, die man sich denken kann

In seiner Selbstanalyse, der er den Titel „Charakter einer mir bekannten Person“ gegeben hat, heißt es später: „Von der Religion hat er als Knabe schon sehr frei gedacht, nie aber eine Ehre darin gesucht, ein Freigeist zu sein, aber auch keine darin, alles ohne Ausnahme zu glauben.“ Noch schöner klingt das in der Lichtenbergschen Zuspitzung: „Dass in den Kirchen gepredigt wird, macht deshalb die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig.“

Georg Christoph Lichtenberg bekommt die beste Erziehung, die man sich denken kann. Erst gibt’s Privatunterricht im Elternhaus, dann folgt das ehrwürdige Darmstädter Pädagog, mit Hilfe eines Stipendiums studiert er an der Universität Göttingen: Mathematik, Physik, zivile und militärische Baukunst, Ästhetik, englische Sprache und Literatur, Staatengeschichte Europas, Diplomatik und Philosophie stehen auf dem Lehrplan.

Göttingens Universität, die Georgia Augusta, ist damals eine der großen und berühmten Lehranstalten von Europa, gefördert von Georg III., der nicht nur als Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg regiert, sondern auch Herrscher des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland ist.

Auf zwei England-Reisen lernt Lichtenberg den König und Kurfürsten kennen; der wiederum hat ein Faible für den klugen Mann aus Göttingen, empfiehlt seine Ernennung erst zum außerordentlichen, dann zum ordentlichen Professor in Göttingen.

Großstadt-Poesie aus England

Die Englandreisen haben einen schönen Nebeneffekt: Lichtenberg schreibt wieder alles nieder, was er sieht, macht aufschlussreiche Bemerkungen zur englischen Theatergeschichte, empfiehlt den Deutschen, an der Nordsee nach englischem Vorbild Seebäder einzurichten und vor allem: Mit seinen Beschreibungen des Lebens in London liefert er ein Stück Großstadt-Poesie, wie es die deutsche Literatur bis dahin nicht kannte.

„In der Mitte der Straße rollte Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tambourinen englischer Savoyarden und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen etagenhoch auflodern in einem Kreis von jubilierenden Betteljungen, Matrosen und Spitz-buben.“ Die Melodie der Großstadt.

Die Vorlesungen des „lüttgen Professors“ in Göttingen müssen ein Erlebnis gewesen sein. Er hält es mit der Experimental-Physik. In den 120 Stunden, die ein Semester bei ihm hat, soll er bis zu 450 Lehrexperimente durchgeführt haben, getreu der selbst auferlegten Maxime: „Ein physikalischer Versuch, der knallt, ist allemal mehr wert als ein stiller.“

Auch die Fachwelt ist begeistert von dem, was sich in Göttingen tut. Wer heute eine Fotokopie macht, könnte sich daran erinnern, dass sie im Kern auf Lichtenberg-Experimente zurückgeht. Der Forscher und Lehrer Georg Christoph Lichtenberg war es, der den von Benjamin Franklin in den USA erfundenen Blitzableiter – Lichtenberg nannte ihn ironisch „Furchtableiter“ – in Deutschland durchsetzte und auch die Plus-Minus-Bezeichnungen für elektrische Ladung.

Die Elektrizität der Mädchen

Graf Alessandro Volta, einer der Mitbegründer des Zeitalters der Elektrizität, war in Göttingen zu Besuch. Lichtenberg notiert: „Er ist ein schöner Kerl, und bei einigen sehr freien Stunden, bei einem Abendessen bei mir, da wir bis gegen 1 Uhr zusammen schwärmten, habe ich gemerkt, dass er sich sehr auf die Elektrizität der Mädchen versteht.“

Mit dieser Elektrizität der Mädchen hat es bei Lichtenberg eine besondere Bewandtnis. Er ist 35, als er im Jahr 1777 in Göttingen das zwölfjährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard kennenlernt; zwei Jahre später, vermutlich nach der Konfirmation, zieht sie in sein Haus – „ohne priesterliche Einsegnung meine Frau“.

Die Romanze währt nicht lang. „Die kleine Stechardin“ – so zwei Jahrhunderte später der Titel eines Romans von Gert Hofmann – stirbt 1782 an einer Kopfrose. „Ein solches Muster von Schönheit und Sanftmut“, schreibt Lichtenberg an einen Freund, „hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Sie hat mich mit dem ganzen menschlichen Geschlecht ausgesöhnt.“

Die Beerdigung bewegt ganz Göttingen

Ein Jahr später, 1783, zieht Margarethe Elisabeth Kellner ins Professoren-Haus, auch sie erst 15. Die Beziehung wird lange geheim gehalten und erst 1789 legalisiert, um ihr und den gemeinsamen Kindern das Erbe zu sichern. Georg Christoph Lichtenberg stirbt am 24. Februar 1799, bis zuletzt hat er an einem seiner großen literarischen Werke gearbeitet, an der „Ausführlichen Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche“.

Zur Beerdigung ist die ganze Stadt auf den Beinen, „so viel Freunde und Leidwesende“, heißt es in einer Beschreibung, „hinterlässt nicht leicht ein Gelehrter, und sein Ruhm und Liebe bleibt unvergesslich. Die Studenten sammeln schon und wollen ihm ein Marmor-Monument errichten lassen.“

Viel später wird ihm Kurt Tucholsky ein Denkmal aus Worten setzen: „Lichtenberg? Ein Kerl, der einen Verstand gehabt hat wie ein scharf geschliffenes Rasiermesser, ein Herz wie ein Blumengarten, ein Maulwerk wie ein Dreschflegel, einen Geist wie ein Florett.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort