Waffendebatte in den USA Warum die Amerikaner von Waffen wie besessen sind

Die USA bekommen ihre blutigen Tragödien nicht in den Griff. Um zu verstehen, warum sich so viele Amerikaner an ihre Waffen klammern, muss man zurückblicken. Das Land ist von „Guns“ (Waffen) gesättigt –, hält fest an einem Satz in der Verfassung und der oft falsch gedeutet wird.

 Trauernde Frauen nach dem Amoklauf im September 2013 im Verteidigungsministerium in Washington: Ein wild um sich schießender Mann hatte zwölf Menschen getötet.

Trauernde Frauen nach dem Amoklauf im September 2013 im Verteidigungsministerium in Washington: Ein wild um sich schießender Mann hatte zwölf Menschen getötet.

Foto: picture alliance / AP Photo

Blutige Anfänger bekommen das halbautomatische Sturmgewehr in weniger als fünf Minuten. Wer Name, Anschrift und Geburtsdatum in eine handgeschriebene Liste einträgt, hält nach einem Blick auf den Führerschein und ohne Rückfragen eine frisch polierte AR15 in der Hand. Ein Mann hebt das schwarze Todesgerät aus dem Tragekoffer und rechnet ab: 116,55 Dollar. Dafür gibt es 100 Schuss Munition, eine Stunde am Schießstand, Brille und Ohrenschützer. Die Einweisung ist kostenlos – und freiwillig.

„Das hier ist dein Magazin, das zeigt dir, in welche Richtung die Kugel zeigt“, sagt der Mitarbeiter des Small Arms Range in Maryland. „Wenn du es also falsch herum lädst, weiß ich wirklich nicht, was ich dir noch sagen soll.“ Zehn Patronen lassen sich in das Plastikmagazin pressen. „Dann schließt du den Bolzen“ – tschack – „jetzt bist du bereit, zu schießen. Als Letztes löst du die Sicherung“ – klick – „lehnst dich nach vorn, und . . . Bäng!“.

Kein entwickeltes Land der Welt lässt seine Bürger so leicht an Waffen gelangen wie die USA, kaum eine westliche Demokratie hat den Besitz und Gebrauch von Waffen so tief in die Verfassung gemeißelt. Obwohl die Amerikaner nur 4,4 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, besitzen sie laut des „Small Arms Survey“ von 2007 schätzungsweise 35 bis 50 Prozent aller Waffen weltweit. Ist Amerika also von Waffen besessen? Oder sitzen Kritiker dem Klischee einer Nation schießwütiger Cowboys auf?

300 bis 400 Jahre Geschichte kann man aufwühlen, um der Faszination für Waffen auf den Grund zu gehen. Angefangen haben soll es bei den ersten Siedlern, die sich vor Banditen schützten, nach Handelsware jagten und Ureinwohnern ihr Land raubten. Schießfertigkeit soll als Mittel zum Überleben, als Werkzeug zum Profit und für junge Männer als Schritt zu einem erwachsenen Leben gegolten haben. Glaubt man das, entwickelten die Menschen bis zum Befreiungskrieg und noch vor Geburt der Republik ein Selbstverständnis dafür, Familie und Besitz auf eigene, bewaffnete Faust zu verteidigen.

Wissenschaftler streiten, ob dieser Mythos des schießfertigen „Frontiersman“ sich mit genügend Fakten unterfüttern lässt. Denn Schießpulver und Bauteile waren teuer importierte Güter, eine Waffe konnte das Jahreseinkommen eines Bauern kosten. Bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 gab es nur zwei Arsenale, die Bürgermilizen galten als unzureichend bewaffnet. George Washington, Armee-Oberbefehlshaber und erster Präsident, klagte 1776 in einem Brief an den Kongress über die unzuverlässige Landwehr, deren Männer beim Anblick eines besser ausgestatteten Feindes bereit seien, „vor ihrem eigenen Schatten zu flüchten“.

Doch in die Köpfe jener Amerikaner, die Waffen als heiliges Objekt und als Garant ihrer Freiheit sehen, hat sich längst eine andere Lesart der Geschichte eingebrannt. Mit einer „Patina der Wahrheit“ habe die Erzählung pistolenschwingender Helden das Selbstbild einer jungen und wachsenden Nation gefestigt, schreibt Sam Fulwood vom Center of American Progress. Bald wusste auch die 1871 gegründete Waffenlobbyisten-Organisation National Rifle Association (NRA), die Legenden des amerikanischen Westens für ihre Zwecke zu nutzen.

Die Väter der US-Verfassung dachten nicht an „Waffen für alle“

Günstiger werdende Produktionsverfahren, ein wirtschaftlicher Boom und vor allem der Bürgerkrieg spülten bald Waffen über das ganze Land. Während Siedler gen Pazifik drängten, verhalfen Industrielle wie Samuel Colt und Oliver Winchester in Connecticut sowie Horace Smith und Daniel Wesson in Massachusetts den viel besungenen Helden des „Wilden Westens“ zu ihren Revolvern, Doppelflinten und Unterhebelrepetierern. Aber erklärt das, warum täglich so viele Menschen (siehe Infokasten links) durch Waffen sterben? Warum Kleinkinder unbeabsichtigt ihre Eltern, Geschwister und Spielkameraden erschießen können? Warum Kinder in 30 von 50 Bundesstaaten sogar legal Gewehre besitzen dürfen?

Ein Blick in die Verfassung: Kein Satz wird in der Propagandaschlacht um „Guns“ (Waffen) so oft zitiert wie der zweite Zusatzartikel des Dokuments. „Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden“, lautet der berühmte Abschnitt. Klingt nach einem Waffenschein für Millionen volljähriger Amerikaner.

Doch die Gründungsväter hatten anderes im Sinn. Statt einen Aufstand gegen die Regierung heraufzubeschwören, wollten sie mit Hilfe der Bürger-milizen mögliche (Sklaven-)Revolten niederschlagen. Der Aufbau einer staatlichen Armee lag in weiter Ferne, und nach der langen Tyrannei der britischen Krone sollte die Landwehr ein gesundes Gegen-gewicht zur jungen, neu zentralisierten Macht werden. So erklärt es etwa Michael Waldman, Direktor des Brennan Center for Justice an der New York University und Autor eines Buches zum Thema.

Bis vor weniger als zehn Jahren folgte auch das höchste US-Gericht dieser Auslegung. „Klarer Zweck“ des „Second Amendment“ sei gewesen, die Schlagkraft der Milizen zu sichern, hieß es in einem Urteil von 1939. 70 Jahre verließen sich untere Gerichte und die der Bundesstaaten auf diese Sichtweise – dann kam der Paukenschlag. In einer radikalen Kehrtwende urteilte der Supreme Court 2008 knapp mit fünf zu vier Richterstimmen, dass der zweite Zusatzartikel auch das Recht schütze, zum Selbstschutz zu Hause eine Waffe zu besitzen.

Zwar stellten die Richter klar, dass es nicht darum gehe, „irgendeine Waffe irgendwie und zu welchem Zweck auch immer zu besitzen und zu tragen“. Doch da waren der „Pro Gun“-Bewegung Tür und Tor schon geöffnet. Und wer kann es einem Hausbesitzer im flächenmäßig viertgrößten Land der Welt verübeln, eine Flinte über der Tür oder eine Pistole unter dem Kopfkissen zu lagern, wenn dieser fürchten muss, im Fall der Fälle zu lang auf die Polizei zu warten? Und wenn der Kauf einer Waffe ein Klacks ist?

„Kinderspiel“, sagt die Frau am Schießstand im NRA-Hauptquartier auf die Frage, wie leicht es ist, in Virginia eine eigene Pistole zu ergattern. „Du brauchst keine Lizenz, du brauchst keine Genehmigung, du brauchst gar nichts.“ Ein Wohnsitz genügt. Wen abschreckt, dass der Einzelhandels-Gigant Walmart in manchen Filialen neben Baby-socken und Frischkäse auch ein Sortiment an Pump-Action-Flinten bietet, wird in den Hallen des Jagd- und Camping-Händlers „Bass Pro Shops“ von den Weiten der amerikanischen Waffenwelt regelrecht verschluckt. Im Internet werden einfachste Pistolen wiederum schon für rund 120 Dollar gehandelt.

Es ist die Allgegenwärtigkeit der „Gun Culture“, die viele Europäer den Kopf schütteln lässt. Zombies, Clowns und Terrorchef Osama bin Laden zieren die Zielscheiben des Maryland Small Arms Range; der Club wirbt mit Geburtstags-Specials, Partys für Junggesellen und Firmenfesten. Beim „Gun Store“ in Las Vegas können frisch verheiratete Paare ihr Gelübde besiegeln, indem sie Uzis und Maschinenpistolen abfeuern. Die NRA, die für Lobbyarbeit 2014 umgerechnet fast drei Milliarden Euro ausgab, hat sogar eine eigene TV-Show.

Wo deutsche Schützenvereine oft den Muff vergangener Tage atmen und dekorierte Herren zum Trachtenzug aufbrechen, wächst in den USA eine Klientel jüngerer, zunehmend weiblicher und wohlhabender Schützen heran. Mit Rabattgutscheinen, Team-Wettkämpfen und Spaß für die ganze Familie locken Clubs die Neulinge. „Sind Schießstände die neuen Bowlingbahnen Amerikas?“, fragt der Radiosender NPR. „Die Leute kommen von der Arbeit und sagen: “Hey, gehen wir schießen„“, erklärt Michael, der im Café bei Elite Shooting Sports (ESS) in Virginia arbeitet. Mit 16 Jahren ist er noch zu jung für eine eigene Pistole, deshalb kommt er mit seinem Vater her. „Mein Dad hat eine Sig und eine Glock, ein paar ARs und eine Shotgun. Ziemlich gutes Zeug“, sagt Michael. Ob er eine Waffe kaufen will? „Ja, sobald ich nach dem College etwas Geld übrig habe.“

Im Trend: Das Waffenfach in der Damenhandtasche

Generation für Generation wird der Umgang mit Waffen vorgelebt. Dass die Jüngsten der Jungen noch Jahre vor ihrer ersten eigenen Autofahrt, vor ihrem ersten Alkoholrausch und dem ersten Sex mit Schusswaffen hantieren, scheint Eltern nicht abzuschrecken. „Mein Neffe war etwa acht Jahre alt“, erzählt ein Angestellter am Tresen des Maryland Small Arms Range. Nach ersten Versuchen mit einer Luftpistole habe der Junge sich nach und nach zur Kleinkaliberpatrone heraufgeschossen.

„Meine Lieblingswaffe ist, glaube ich, die AR15. Sie ist laut, und du denkst, sie wird einen harten Rückstoß haben, hat sie aber nicht“, sagt ein Junge mit Pausbacken bei ESS. Das berüchtigte Sturmgewehr, mit dem sich Todesschütze um Todesschütze in die nationalen Schlagzeilen schoss, hat er eben noch in der Hand gehabt. An seinen Beinen schlabbert eine Jogging-hose. Ob er nicht zu jung zum Schießen ist? „Ich bin 12. Ich habe schon mit 10 angefangen.“

Selbst die grauenvollen Unfälle mit Waffen in Kinderhand scheinen nur noch Alltagsempörung auszulösen. Mit einem Maskottchen namens „Eddie Eagle“ erzieht die NRA in Mal- und Rätselheften zum richtigen Verhalten. „Stopp! Nicht anfassen. Lauf davon. Erzähle es einem Erwachsenen“, erklärt der Adler, als Kids auf dem Dachboden einen Revolver entdecken.

Auch die Tage, in denen Schießen eine reine Männerdomäne war, sind gezählt. Frauen organisieren sich in eigenen Vereinen, Hersteller locken mit poppig-pinken Pistolen und Handtaschen mit Waffenfach. „Die Menschen halten uns für schwach“, sagt Donna Anderson, die im Verein „A Girl and A Gun“ mit anderen Frauen schießt. Arbeitskollegen hätten sie bereits angesprochen, um ihren Frauen endlich die Furcht vor der hauseigenen Knarre zu nehmen. Das mit dem Pink und Lila sei zwar nicht so ihre Sache. Aber: „Ich habe eine Glock 17, und die ist schwarz und wunderschön.“

Schießsport-Champion Megan Francisco, die im ESS-Schulungs-video zu treibender Rockmusik blitzartig nach einer Waffe greift und dann – bapbapbapbapbap! – abfeuert, hat auch noch einen Tipp für die weiblichen Einsteiger: „Auch wenn viele Ärzte dazu eine andere Meinung haben, empfehlen wir, dass Sie das Schießen in der Schwangerschaft nicht vernachlässigen.“

So düster es klingt: Die nächste Schießerei kommt bestimmt. Wieder werden Unschuldige sterben, wieder werden Politiker streiten, wieder werden die Waffenkäufe zunehmen. Im „Land der Freien und der Heimat der Tapferen“ wird sich am bewaffneten Selbstverständnis der Menschen auf absehbare Zeit nichts ändern. Beschrieben wird es vielleicht am besten durch ein geflügeltes Wort, das beim Heranwachsen Amerikas in Erinnerung blieb: „Abraham Lincoln mag alle Menschen befreit haben, aber Samuel Colt machte sie einander ebenbürtig.“

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