Ein Horror für Hedonisten Wie der Begriff "Gutmensch" zum Kampfbegriff mutierte

Bonn · Warum sachlich bleiben, wenn's doch auch persönlich und verletzend geht? Wie der „Gutmensch“ vom fröhlichen Scherzartikel zum politischen Kampfbegriff mutierte. Ist denn bald mal gut damit?

 Die Kerze als Symbol des Guten: Besucher des Evangelischen Kirchentages im Mai.

Die Kerze als Symbol des Guten: Besucher des Evangelischen Kirchentages im Mai.

Foto: picture alliance / Britta Peders

Der kölsche Mundart-Musiker Wolfgang Niedecken bewies hellseherische Fähigkeiten, als er 1981 auf dem dritten BAP-Album den Titel „Müsli-Män“ präsentierte. Da geht es um einen ernährungsbewussten Sandalenträger mit Hollandrad und Heiligenschein, dessen bloße Anwesenheit genügt, um den Mitmenschen augenblicklich ein schlechtes Gewissen zu bereiten.

Falls seine schiere Existenz mal nicht automatisch zum erwünschten Ziel führt, wird der Missionar auch schon mal deutlicher: Ich stund friedlich en der Frittenbuud ... schweb hä op mich zo, speut messjanisch op ming Currywoosch ...

Auch wenn Niedecken ihm schon Gestalt gegeben hatte: Erst Jahre nach dem BAP-Song hielt der „Gutmensch“ Einzug in den Sprachgebrauch. Aber dann dauerte es gar nicht mehr lange, und der „Gutmensch“ gab genug Stoff her, um das am Buchmarkt erfolgreiche „Wörterbuch des Gutmenschen“ zu füllen – vornehmlich mit Spott.

Die Zeiten ändern sich, und mit den Zeiten ändern sich der Gebrauch von Sprache und die Bedeutung von Begriffen. Wolfgang Niedeckens fröhliche Reggae-Nummer war noch eine von viel Selbstironie geprägte Spiegelung des eigenen schlechten Gewissens bei der alltäglich zu erstellenden privaten Öko-Bilanz.

Unwort des Jahres 2015

Der Kölner BAP-Gründer war zwar (zumindest 1981) kein Veganer, aber seit Anbeginn seines Künstlerlebens ein unermüdlich wirkender musikalisch-politischer Botschafter des Weltfriedens und der Völkerverständigung. Auch ein Gutmensch also?

34 Jahre später ist der „Gutmensch“ das „Unwort des Jahres“. Denn inzwischen sind die mit der hässlichen Vokabel belegten Menschen nicht mehr nur Zielscheibe von harmlosen Scherzen und allerlei Spott, sondern zuweilen Opfer von Verachtung, Hohn und Hass. Der „Gutmensch“ mutierte zum politischen Kampfbegriff, frei nach dem Motto: Warum sachlich bleiben, wenn's doch auch persönlich und verletzend geht?

Die Jury begründete ihre Wahl so: Als „Gutmenschen“ werden auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. Mit dem Vorwurf „Gutmensch“ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm oder weltfremdes Helfersyndrom diffamiert.

Der Ausdruck „Gutmensch“ floriert nicht mehr nur im rechtspopulistischen Lager, sondern wird auch schon von Journalisten in Leitmedien verwendet. Die Verwendung verhindert einen demokratischen Austausch von Sachargumenten.

Narzissten nerven, aber...

Zweifellos nerven sie bisweilen: Jene Mitmenschen, die sich selbst den Persilschein der besseren, der einzig vertretbaren Gesinnung ausstellen und ihr moralisches Urteil an den Anfang des Denkprozesses statt an dessen Ende stellen. Selbstgerechte, selbstverliebte, selbstherrliche Zeitgenossen, die ihre Allwissenheit in Formulierungen mit Absolutheitsanspruch packen, tief ergriffen von sich selbst.

Ja. Ein narzisstischer Charakter nervt die Umwelt zweifellos. Zugeschrieben werden die oben genannten Eigenschaften heutzutage jenen „Gutmenschen“, die Flüchtlinge an Bahnhöfen willkommen heißen, das schreiende Unrecht in der Dritten Welt anprangern, die barbarische Massentierhaltung in der Lebensmittelindustrie geißeln oder vor den Folgen des fortschreitenden Klimawandels warnen.

Dabei lassen sich all die im vorigen Absatz genannten Charaktereigenschaften bei näherem Hinschauen durchaus auch bei dynamischen Jungmanagern, konservativen Richtern oder amerikanischen Präsidenten entdecken. Eine Gesinnung macht noch keinen Charakter aus, und Narzissmus ist keine Frage des politischen Weltbilds.

Ist denn bald mal gut damit? Gern verorten Zyniker die „Gutmenschen“ auch und vor allem unter Kirchentagsbesuchern, die an den lieben Gott glauben und vom Frieden singen, während die Welt in Scherben fällt.

Eine teuflische Erfindung

Man belächelt sie bestenfalls und vergisst dabei, dass genau solche Menschen mit ihren Kerzen und ihren Liedern, mit ihrem Engagement und ihrer Friedfertigkeit und ihrer Solidarität und zudem unglaublich viel Mut einst die Mauer zu Fall brachten und damit ein menschenverachtendes System zum Einsturz.

Dem Fall der Mauer folgten die Wiedervereinigung, die Globalisierung, der Neoliberalismus, die „Ich-AG“ (das „Unwort des Jahres“ 2002) und die „Entlassungsproduktivität“ (das „Unwort des Jahres“ 2005). Wäre eine Zivilgesellschaft ohne Menschen, die an das Gute glauben und danach streben, dem Guten zum Sieg auf diesem Planeten zu verhelfen, eine Gesellschaft also, die allein aus „Realisten“ und „Pragmatikern“ besteht, tatsächlich eine bessere Gesellschaft? In welche Richtung dreht sich eine Welt ohne den Traum von einer besseren, einer gerechteren Welt?

Wenn es zutrifft, dass nicht nur das Denken die Sprache prägt, sondern umgekehrt der Gebrauch der Sprache das Denken manipuliert, dann ist der Begriff „Gutmensch“ eine teuflische Erfindung. Berührt es uns noch, wenn man in Bankhäusern die Champagnerkorken knallen lässt, weil sich soeben der Weltgetreidepreis verdoppelt hat?

Vielleicht ist dies der Schlüssel, warum der Begriff „Gutmensch“ so populär werden konnte: Er schützt die Hedonisten und die Nihilisten, die Zyniker und die Egomanen davor, kritisch in den Spiegel blicken zu müssen. Was für eine Horrorvorstellung.

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