Als die Aufklärung auf die Leinwand kam Wie Käte Strobel die Nation aufklärte

Bonn · Wie Käte Strobel, in der Bundeshauptstadt Bonn zuständig für das Ressort Gesundheit in der Regierung Kiesinger, vor einem halben Jahrhundert die Nation aufklärte. Eine Zeitreise.

 Eine andere Zeit: Diese Szene aus dem Aufklärungsfilm zeigt „Helga“ beim Frauenarzt.

Eine andere Zeit: Diese Szene aus dem Aufklärungsfilm zeigt „Helga“ beim Frauenarzt.

Foto: GA-Archiv

Was man als verdiente Politikerin so alles bekommt: den Bayerischen Verdienstorden, das Große Verdienstkreuz mit Stern und dann auch noch das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Für die Sozialdemokratin Käte Strobel, Bundesministerin für Gesundheit in den Regierungen Kiesinger und Brandt, gab’s noch was Ungewöhnliches obendrauf: die Goldene Leinwand. Die erhielt man für einen Film, der in Deutschland in zwölf Monaten mindestens drei Millionen Zuschauer ins Kino lockte.

In der Filmsaison 1967/68 taten das beispielsweise die „Lümmel von der ersten Bank“ oder „Die Nibelungen“, in denen Hammerwerfer Uwe Beyer als Siegfried weniger mit seinem schauspielerischen Vermögen als vielmehr mit seinem Körperbau beeindruckte. Und „Helga“ gehörte in diese Reihe, ein Aufklärungsfilm, in Auftrag gegeben und unterstützt vom Ministerium der Käte Strobel.

Das war neu in Deutschland: Sexualaufklärung von Staats wegen. Vor 50 Jahren, am 22. September 1967, hat der filmische Nachhilfeunterricht Premiere und findet ein höchst aufmerksames Publikum. 600 Millionen Zuschauer weltweit werden in der Folge auf der Leinwand sehen, was deutsche Gründlichkeit aufklärungsmäßig anrichten kann. Der Film heißt im Untertitel „Vom Werden des menschlichen Lebens“ und nimmt es damit sehr genau.

Er begleitet die wenig aufgeklärte Helga vom ersten Besuch bei der Frauenärztin, wo es um Geschlechtsverkehr und Geburtenkontrolle geht, bis zur Entbindung. Die wird leinwandfüllend in allen Einzelheiten und in Nahaufnahme gezeigt. Es fließt viel Blut. Auf soviel Anschaulichkeit sind deutsche Männer offenbar nicht vorbereitet, sie fallen reihenweise während des Films in Ohnmacht. Die Kinobesitzer lernen daraus: Bald sind bei den Aufführungen immer Sanitäter des Deutschen Roten Kreuzes dabei.

Keine Erotik bei "Helga"

Der Kinobesucher hätte vom „Helga“-Plakat vorgewarnt sein können: „Kein Film, den man sich ansieht, um sich zu unterhalten“, heißt es da. Beim „Helga“-Filmstart in Amerika hat man gute Ratschläge für die Eltern parat: „Wegen gewisser Szenen empfehlen wir: Schauen Sie sich Helga zuerst an“ – bevor die Erziehungsberechtigten ihren jugendlichen Nachwuchs der deutschen Sexual-Lektion aussetzen.

Wer auf Erotisches hofft, wird von „Helga“ ziemlich enttäuscht. Man sieht die Protagonistin nackt unter der Dusche, die Rückenansicht natürlich. Der Kommentar dazu ist ein wunderbares Beispiel der gezielten Lusttötung: „Vermehrte Schweißabsonderung erfordert häufige Waschungen.“ Auch die Dialoge haben es in sich. Sohnemann schaut Mutti von oben bis unten gründlich an und bemerkt scharfsinnig: „So was wie ich hast du aber nicht.“ „Du meinst dein kleines Glied“, sagt Mutti. „Natürlich nicht. Das haben nur kleine Jungen und große Männer.“

Alles klar. Hinter „Helga“ stehen zwei Männer, die in der Filmgeschichte sonst kaum Spuren hinterlassen haben. Regisseur Erich F. Bender ist allenfalls noch mit einem kurzen biologischen Lehrstück über „Kali und Pflanze“ aufgefallen. Produzent Karl Ludwig Ruppel fertigte für die Nazis Dokumentationen wie „Front am Himmel“ und „Sprung in den Feind“; nach dem Krieg widmet er sich filmisch der deutschen Fußballmeisterschaft von 1949 und ist für die Spezialeffekte in den „Unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse“ verantwortlich.

Keine Karrieren also, die einen großen Erfolg hätten erahnen lassen können – aber der „sexualkundliche Lehrfilm für Eltern, Erzieher und heranwachsende Jugendliche“ wird zum Welt-Hit. Danach kehrt sowohl für den Regisseur als auch für den Produzenten schnell wieder Ruhe im Filmgeschäft ein.

Priester und Nonnen geben ihren Segen

Auch Helga-Darstellerin Ruth Gassmann, Jahrgang 1935, kann vom Aufklärungsrummel wenig profitieren. Sie hat schon ein bisschen Hollywood-Luft geschnuppert und Gastrollen in der Western-Serie „Rauchende Colts“ ergattert, ehe sie als Helga ausgesucht wird. „Die Frau, die ganz Deutschland zeigte, wie man Kinder macht“ (so schrieb die Illustrierte „Bunte“) dreht zwar noch zwei Nachfolge-Filme, „Helga und Michael“ und „Helga und die Männer“, aber die großen Angebote bleiben für die blonde Deutsche aus.

In Frankreich, wo „Helga“ ziemlich populär ist, schafft es Ruth Gassmann immerhin aufs Cover der „Cine Revue“. Vor dem offiziellen Kino-Start in Frankreich hatte man den Film sicherheitshalber 500 französischen Priestern und Nonnen gezeigt, und die fanden das Ganze unbedenklich.

In seiner umfassenden „Geschichte des erotischen Films“ macht der französische Autor Gérard Lenne ein paar aparte Anmerkungen zu Gassmann und „Helga“: „Die unter Tausenden ausgewählte Helga-Darstellerin, ein Musterbild der idealen deutschen Frau, strahlte rundherum nur Gesundheit aus, ganz in der besten Tradition des deutschen Naturismus, wie er noch vor gar nicht so langer Zeit von der Nazipropaganda verherrlicht worden war ... Natürlich hatte das alles nicht das geringste mit Erotik zu schaffen. Das oberste Gebot des Films war: Lerne deinen Körper kennen und bereite dich ohne traumatische Vorstellungen auf sexuelle Beziehungen vor, die zu nichts anderem als zur Arterhaltung und Fortpflanzung dienen sollen.“

Wie auch immer man dazu stehen mag: „Helga“ bringt die Aufklärungs- und Sex-Welle in Deutschland in Schwung. Es gibt dafür offenbar Bedarf in einem Land, in dem Homosexualität eine Straftat ist, in dem der Kuppelei-Paragraph den unverheirateten Paaren das Leben schwer macht und Ingmar Bergmans preisgekrönter Film „Das Schweigen“ die „Aktion saubere Leinwand“ auf den Plan ruft und mehr als 100 Strafanzeigen provoziert.

"Pornofreie gute alte Zeit"

Noch 1963 setzt der Bayerische Rundfunk den Schlager „Schuld war nur der Bossa Nova“ auf den Index, vier von Manuela gesungene Zeilen sind schuld daran: „Als die kleine Jane gerade 18 war, / führte sie der Jim in die Dancing Bar. / Doch am nächsten Tag fragte die Mama: / Kind, warum warst du erst heut morgen da?“

„In dieser pornofreien guten alten Zeit“, so führt die Schriftstellerin Ulrike Heider aus, „wachten Eltern, Lehrer und Mitschüler Seite an Seite mit den Zensoren und Berufs-Tugendbolden der Adenauer-Ära über die Unschuld der (vor allem bürgerlichen) Mädchen. Die Keuschen selbst durften wegen einer möglichen Gefährdung des Hymens nicht einmal Tampons benutzen. Kaum eine wagte ihre Unschuld vor dem Abitur aufs Spiel zu setzen, denn der Preis konnte hoch sein ... Das Gros der Knaben litt nicht minder unter der Angst vor den bösen Folgen der Onanie, mit denen Großväter, Väter und Kirchenmänner noch immer drohten.“

Selbst Bravo, das Zentralorgan der jungen Generation, meint noch 1968: „Ein Junge, der der Lust an sich selbst nachgibt, verkennt gründlich, wozu der Sex von der Natur bestimmt ist.“ Das ändert sich mit und nach „Helga“. Die Kultusministerkonferenz gibt „Empfehlungen zur Sexualerziehung in der Schule“, bei „Bravo“ kommt Dr. Sommer und bricht etliche Tabus, in anderen Zeitschriften wird der Journalist Oswalt Kolle zum Chef-Aufklärer der Deutschen. Ob Mann, Frau oder Kind: Kolle entdeckt lauter „unbekannte Wesen“, die es zu erforschen gilt.

Sein „Wunder der Liebe“ kommt ein halbes Jahr nach „Helga“ in die Kinos und wirbt für Kolles Devise: „Sexualität ist mehr als Technik. Sexualität ist Vertrauen und Zärtlichkeit.“ Andere Filmemacher finden heraus, dass sich unter dem Deckmäntelchen der Wissenschaftlichkeit und unter dem seriösen Stichwort „Report“ softige Sex-Streifen gut verkaufen lassen. Der „Schulmädchen-Report“ bringt es von 1970 bis 1980 auf 13 Kino-Folgen. Auch Lehrmädchen, Stewardessen und Hausfrauen bleiben von filmischer Untersuchung nicht verschont.

Aids ändert alles

Und Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel legt unerschrocken nach. Schon bei der Verleihung der Goldenen Leinwand hat sie angekündigt, der Film sei „nur ein Teil unserer Arbeit auf diesem Gebiet“. 1969 gibt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Auftrag der Ministerin einen Sexualkunde-Atlas heraus. Die 48 sehr bunten Seiten – Eierstöcke lila, Vorsteherdrüse grün – rufen erneut heftige Diskussionen hervor und verkaufen sich natürlich bestens. Käte Strobel nimmt auch dies gelassen: „Wir haben nicht erwartet, dass man nur Loblieder singen wird. Bei solchen Versuchen geht man den Konservativen immer zu weit, den Progressiven bietet man zu wenig.“

Die staatliche Aufklärungsfibel entpuppt sich als Biologiebuch in extrem nüchterner Sprache: „Der Schamberg ist ein behaartes Fettpolster oberhalb der Scheide.“ Die Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass der Atlas die Beziehungen zwischen Mann und Frau aufs rein Körperliche und medizinisch Funktionelle beschränkt.

„In einer naturalistisch kaum überbietbaren Darstellung“, so moniert damals die Wochenzeitung Die Zeit, „wird der technische Vorgang der Menscherzeugung offengelegt, ohne Einzelheiten auszusparen. Wie in einer Beschreibung aus unserer technischen Umwelt werden Produktionswerkzeuge gezeigt und beschrieben ... Wer wagt da noch, an Worte wie Liebe und Zuneigung zu denken.“

Die Diskussion über die Rolle von Staat und Schule in Sachen Aufklärung hält noch Jahre an. Bis eine Krankheit alles ändert. Als Aids ein Thema wird, ist sexuelle Aufklärung gefragt wie nie. Heute hat der Staat seine Aufklärung vor allem ins Internet verlagert. „Loveline“ heißt das Jugendportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und liefert dort „alles, was du zu Liebe, Freundschaft, Gesundheit, Aussehen, Sex und Verhütung wissen musst“.

Das ist gut und klug und umfassend gemacht, hat Ratschläge für fast alle Lebens- und Liebes-Situationen parat und gibt sich sozusagen grenzenlos: „Ich nehme nicht die Pille. Können wir mit Kondom verhüten?“ – solche und viele andere Sätze, die man zum Beziehungsaufbau braucht, gibt es in englischer, französischer, spanischer und italienischer Übersetzung.

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