Die Anschläge in Belgien Attentat auf Europas Machtzentrum

Brüssel · Brüssels Problem sind die Parallelgesellschaften aus Mandatsträgern und hochrangigen Diplomaten einerseits und verarmten Bevölkerungsschichten mit vielen Zuwanderern andererseits.

Das Bild ist so grausam, dass es nur schwer auszuhalten ist: Mitten in der gesprengten Abflughalle des Brüsseler Flughafens liegt ein Mann, die Bombe des Attentäters hat ihm beide Beine abgerissen. Er schreit, während Ersthelfer ihn zu versorgen versuchen. „Irgendwann wurde das Schreien leiser und verstummte schließlich“, erzählt einer der hilflosen Retter später. Ist es das, was die Terroristen erreichen wollten?

Mitten in den Straßen einer europäischen Millionenstadt kriechen verängstigte Menschen über den Gehweg, drücken sich an Hauswände, laufen um ihr Leben. Warum? Die Einwohner und Besucher, die Angehörigen und ihre Opfer haben an diesem 22. März 2016, der sich in die Köpfe und in die Stadtgeschichte einprägen wird, noch keine Zeit, der Frage nachzugehen. Rache ist der erste Gedanke. Eine Machtdemonstration jener Leute, die der erst wenige Tage zuvor verhaftetet Paris-Attentäter Salah Abdeslam um sich geschart hat?

„Wir können noch nichts sagen“, erklärt der leitende Generalstaatsanwalt Frédérick van Leeuw am späten Vormittag. Nur dass es sich um „Terrorakte“ gehandelt habe, stehe für ihn fest. Es ist eine seltsame Hilflosigkeit, die die Brüsseler Behörden ausstrahlen. Noch am Montag konnte van Leeuw vom Erfolg der Verhaftung Abdeslams berichten.

Einen Tag später scheinen die Terroristen zu triumphieren und alle die Vorwürfe an die Polizei zu bestätigen. Brüssel gilt als unsicheres Pflaster. Jahrelang wurde in den 19 Stadtgemeinden nur oberflächlich kontrolliert, wer wo wohnt. Nach den Pariser Anschlägen gingen in Molenbeek, das längst als „Dschihad City“ verunglimpft wird, Polizisten von Haus zu Haus, um festzustellen, wer wo eigentlich lebt.

„Es gibt keine Bundes- oder Landespolizei, nur städtische Strukturen“, schimpft der Europa-Abgeordnete Markus Ferber (CSU), der eigentlich an diesem Dienstagmorgen von München nach Brüssel fliegen sollte. Seine Maschine wäre wohl genau zu dem Zeitpunkt gelandet, als die Bomben in der Abflughalle hochgingen.

Die Hauptstadtregion Brüssel ist ein kompliziertes politisches Gebilde: Die wallonische und die flämische Sprachengemeinschaft treffen hier aufeinander. 19 Gemeinden, sechs Polizeidistrikte, ein Oberbürgermeister für alle. Ständig agieren Räte und Abgeordnetenvertretungen unterschiedlicher politischer Ebenen gegeneinander. Seit Jahren führt Brüssel die europäische Liste mit den meisten Einbrüchen, Überfällen und Eigentumsdelikten wie Raub an. Doch Reformen blieben stecken.

Seit den Pariser Anschlägen patrouillieren 300 Soldaten in den Straßen, kontrollieren die Eingänge zu wichtigen Gebäuden wie dem europäischen Parlament, der Kommission, den Sitzen der belgischen Regierung. An die Lebensadern dieser Stadt wie die Metro hatte niemand gedacht. An diesem Dienstag zerreißt eine Bombe an der Station Maelbeek einen ganzen Zug, Überlebende hasten durch verrauchte Tunnel.

Trauer nach den Anschlägen in Brüssel
37 Bilder

Trauer nach den Anschlägen in Brüssel

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Es sind Bilder wie im Krieg. Wenig später nutzt Premierminister Charles Michel genau dieses Wort: „Wir befinden uns im Krieg.“ Er fordert die Menschen auf, solidarisch zu sein. Als wenn das jetzt das Problem wäre. Brüssel steht nun mit Istanbul, Madrid, London und Paris in einer Reihe. Wie lange wird es dauern, bis die Behörden den Menschen wieder so viel Vertrauen zurückgegeben haben, dass sie sich aus ihren Häusern, auf den Weg zur Arbeit oder in die Metro trauen?

Der Terror zeigt sich nicht nur von seiner feigen Seite, denn in Belgien hatten die Osterferien bereits angefangen. An diesem Morgen wollten viele Familien in den Urlaub fliegen. Die Täter zielten auf das europäische Machtzentrum, wo EU und Nato ihren Hauptsitz haben. Und sie schlugen dort zu, wo europäische Politik gemacht wird – der Sprengsatz in der Metro ging nur einen Steinwurf weit von dem Gebäude hoch, in dem noch am vergangenen Freitag die Staats- und Regierungschefs der EU zusammensaßen.

Unfassbar? Undenkbar? Seit gestern nicht mehr. Das ist die Botschaft: Wir können, wenn wir wollen, Europa ins Herz treffen. Über 30 Tote und 130 Verletzte sollen das belegen.

Die politischen Analytiker haben Belgien immer wieder als Zentrum des Terrors gebrandmarkt – wegen seiner besonderen Lage im Zentrum der EU, wegen seiner politischen Machtfülle, wegen der weitreichenden Macht der europäischen Institutionen. Ein Anschlag auf diesen Mittelpunkt der EU würde alle Staaten irgendwie treffen, so lautete die These. Der Nährboden dazu passte: Brüssels Problem sind die beiden Parallelgesellschaften aus öffentlichen Mandatsträgern und hochrangigen Diplomaten einerseits und verarmten Bevölkerungsschichten mit vielen Zuwanderern andererseits.

Anwerber des Islamischen Staates (IS) konnten hier jahrelang unter jungen Menschen ohne Perspektive Nachwuchs für den Dschihad rekrutieren. Dem Ruf seien fast 1000 junge unzufriedene Menschen gefolgt, heißt es. „Sharia4Belgium“ hieß die Organisation mit fast 50 Mitgliedern, die mehrere hundert Kämpfer rekrutierte, ehe sie zerschlagen und ihre Mitglieder verurteilt wurden.

Der Prozess vor zwei Jahren belegte in allen Einzelheiten, woran es Belgien mangelt, warum junge Menschen anfällig für radikale Ideen werden. Rückschlüsse zogen nur wenige. Noch heute betätigen sich Stadtführer fleißig in Schönfärberei, wenn sie durch jene vernachlässigten Viertel führen und verzweifelt versuchen, die Machtlosigkeit der Polizei als „dummes Gerede“ abzutun. Auch sie sind gestern Lügen gestraft worden.

Als am Dienstagmittag sogar die königliche Familie aus dem Stadtschloss evakuiert und in Sicherheit gebracht wird, ist die Nation getroffen. Etwas Vergleichbares geschah zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Um die Gefühlslage dieses Augenblicks nachempfinden zu können, stelle man sich für einen Moment vor, der deutsche Bundespräsident müsse aus seinem Berliner Amtssitz an einen sicheren Ort gebracht werden.

Belgien erlebte gestern einen der schwärzesten Tage seiner Geschichte. Und es weiß noch nicht, wie es wieder zur Normalität zurückfinden kann.

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