Vier Wochen lange Untersuchung Bonner Wissenschaftler starten Corona-Studie in Heinsberg

Heinsberg · Der Bonner Virologe Hendrik Streeck startet in der vom Coronavirus besonders betroffenen Region Heinsberg eine bisher einmalige Studie. Die These: Was dort passiert, passiert später auch in anderen Regionen.

 Heinsberg als Forschungsobjekt: Ricarda Schmithausen und Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn und Landrat Stephan Pusch.

Heinsberg als Forschungsobjekt: Ricarda Schmithausen und Hendrik Streeck von der Uniklinik Bonn und Landrat Stephan Pusch.

Foto: dpa/Jonas Güttler

Die Redensart, die Stephan Pusch an diesem Morgen immer wieder über die Lippen kommt, ist: Licht ins Dunkel bringen. Und derjenige, der das machen soll, sitzt gleich neben Pusch, dem Landrat des Kreises Heinsberg. Es ist Hendrik Streeck. Virologe, also derzeit eine Art Popstar. Streeck kommt von der Uniklinik Bonn und soll in Heinsberg eine bisher einmalige Studie starten. Es geht darum, die Infektionsketten beim Coronavirus-Ausbruch genauer zu erforschen und die Zahl derjenigen zu ermitteln, die zwar infiziert waren, aber nicht getestet wurden und demnach auch nicht in der Statistik auftauchten. Die Dunkelziffer soll ans Licht.

Der Kreis Heinsberg sei für diese Studie einzigartig, sagt Streeck. Mitte Februar tauchte das Virus erstmals in der kleinen Gemeinde Gangelt auf. Der Hotspot war eine Karnevalssitzung. Das Virus wurde dort hineingetragen. Heinsberg hat seitdem viel durchgemacht. Eindämmungsmaßnahmen wurden viel früher erlassen als im Rest der Republik. Es gab Anfeindungen gegen Teile der Bevölkerung. Der Landkreis hatte am Dienstag 1266 Infizierte, 35 Menschen sind gestorben. Die Kurve der Infektionsfallzahlen flacht allmählich ab, wenn auch sehr langsam. „Heinsberg ist dem Rest Deutschlands ungefähr zweieinhalb Wochen voraus“, erklärt Landrat Pusch. Was dort passiert, passiert später auch anderswo, ist die These. Ein ideales Forschungsfeld also.

In der stark betroffenen Gemeinde Gangelt leben rund 12.000 Einwohner. 1000 von ihnen wurden nun vom Kreis angeschrieben, sich für die Pilotstudie zu melden. Die Menschen wurden nicht zufällig ausgewählt. Es sei eine repräsentative Stichprobe, die in Zusammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut Forsa erstellt worden sei, erklärt Streeck. Von den Probanden sollen in den kommenden Tagen Abstriche aus Mund und Nase sowie Blutproben genommen werden. Die Forscher ermitteln dann, wer aktuell noch infiziert ist und wer seine Krankheitsphase womöglich schon hinter sich hat, aber nie getestet wurde. Derlei Studien seien für die Wissenschaft derzeit sehr wichtig, sagt Streeck. Bisher stütze man sich auf viele Modellrechnungen zum Infektionsgeschehen. Fakten gibt es bisher nur wenige. Das wolle man ändern. Die Studie solle streng nach den Protokollen der Weltgesundheitsorganisation durchgeführt werden. So seien die Ergebnisse später international besser vergleichbar.

Streeck hat für sein Unterfangen gleich 40 Mitarbeiter mitgebracht. Ein Großteil davon sind Studenten. „Zunächst waren es 20, doch es kamen noch so viele Freiwillige hinzu, dass wir aufgestockt haben“, sagt er. Mit dabei ist auch die Hygienikerin Ricarda Schmithausen, die Proben aus den Haushalten nehmen soll. „Ganz praktisch gedacht schauen wir darauf, welche Einschränkungen für jeden Einzelnen empfehlenswert sind. Darf ich mein Handy jetzt nicht mehr weiter benutzen? Muss ich die Türklinke desinfizieren? Was darf ich noch essen?“, sagt Schmithausen. Fragen, mit denen sich viele Bürger langfristig beschäftigten.

Neben der eigentlichen Pilotstudie untersuchen die Forscher auch gesondert noch einmal die Karnevalsveranstaltung, von der aus die Epidemie im Kreis ihren Lauf nahm. „Uns interessiert einerseits, welche Teilnehmer genau infiziert waren. Noch spannender ist aber die Frage, warum sich manche nicht infiziert haben“, sagt Streeck. Auch Familien, Kindergärten, Seniorenheime und Krankenhäuser sollen genauer betrachtet werden.

Am Ende der auf vier Wochen angesetzten Studie sollen Handlungsempfehlungen zur Bekämpfung des Virusausbruchs stehen. In diesem Zusammenhang weist Streeck auf seine neu erlangte Popularität hin. „Wir Virologen sind derzeit ja omnipräsent“, sagt er. Streeck selbst ist häufig bei „Stern TV“ zu sehen, sein Berliner Kollege Christian Drosten ist im NDR-Podcast zu hören, und Alexander Kekulé aus Halle steht dem MDR Rede und Antwort. So manche Zeitung schrieb bereits, dass Deutschland von den Virologen regiert werde. Dies sei ein Dilemma, sagt Streeck: „Wir geben nur die Fakten, entscheiden muss aber die Politik.“

Erste Erkenntnisse der Studie, etwa zur Wirkung von Ausgangsbeschränkungen, könnten nach Ansicht des Bonner Virologen bereits in der nächsten Woche vorliegen. Es wären die erhofften Lichtstrahlen.

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