Harper Lees Roman Der tiefe Sturz des weißen Ritters

Er war der tadellose Ritter, das Idol hehrer Jurastudenten. Südstaatenanwalt Atticus Finch verteidigte in Harper Lees "Wer die Nachtigall stört" (1960) einen unschuldigen farbigen Jungen, der eine Weiße vergewaltigt haben soll.

 Seit gestern in Amerika im Handel: Harper Lees "Go Set A Watchman". Die deutsche Übersetzung erscheint am Freitag.

Seit gestern in Amerika im Handel: Harper Lees "Go Set A Watchman". Die deutsche Übersetzung erscheint am Freitag.

Foto: dpa

Im Kino wurde diese Lektion in Edelmut noch gesteigert, als Gregory Peck dem Helden bescheidene Noblesse gab. Die heute 89-jährige Autorin ließ diesem Pulitzer-Preis-gekrönten Weltbestseller 55 Jahre lang kein Buch mehr folgen. Doch gestern erschien in den USA jene mit Harry-Potter-Hype annoncierte Fortsetzung (Startauflage dort: zwei Millionen), die ab Freitag hierzulande in zunächst 100.000 Exemplaren einen Säulenheiligen stürzt. Von Atticus' "Nachtigall"-Credo "Gleiche Rechte für alle, Sonderrechte für niemanden", bleibt wenig, statt dessen fragt er seine Tochter: "Willst du scharenweise Neger in unseren Schulen und Kirchen und Theatern?"

Die nun 26-jährige Jean Louise Finch, die als kleiner Wildfang durch den ersten Band tollte, reagiert harsch: "Du, der du mich Scout genannt hast, bist tot und in deinem Grab." So viel Bitterkeit wollte Harper Lees Lektorin Tay Hohoff 1957 wohl nicht zulassen. So gab sie das Manuskript an die Autorin zurück, die das Rad in Scouts letztlich heile Welt zurückdrehte.

Diese wird in der Fortsetzung, die eigentlich der Vorläufer ist, düster eingefärbt. "Gehe hin, stelle einen Wächter" (der Titel ist ein Jesaja-Zitat) erzählt, wie Jean Louise in den 50er Jahren aus New York nach Maycomb/Alabama reist, wo sie ihren 72-jährigen Vater und ihren Jugendfreund Henry "Hank" Clinton besucht. Bis Seite 115 spiegelt ein ironisches Parlando das Selbstbewusstsein der jungen Frau. Keinesfalls will sie in einer falschen Ehe enden, in "einer selbst gemachten privaten Hölle, versüßt mit den neuesten Elektrogeräten".

Anfangs bleibt es bei mildem Spott auf "Kaffeevisiten" und andere Südstaaten-Galanterien. Erst nach mehr als 100 Seiten platzt die Bombe. Jean Louise sieht Atticus und Hank in einem Bürgerkomitee, in dem eifrig gegen "Nigger" gehetzt und eine "Bastardisierung" der eigenen Rasse befürchtet wird.

Harper Lee beschreibt dies radikal als Vertreibung aus dem Paradies, das es nun nur noch in poetisch-skurrilen Kindheitserinnerungen gibt. So lebendig dieses Glück im Rückspiegel beschworen wird, so zäh und verbissen gestaltet sich das Wortgefecht zwischen Atticus und seiner zürnenden Tochter.

Gewiss, Harper Lee will Jean Louises "Farbenblindheit" nicht nur als Kompliment verstehen. Sie entlarvt auch einen Mangel an Realitätssinn und die blinde Überhöhung des Vaters. Was folgt, ist ein rhetorischer Schlagabtausch, Plädoyers wie vor Gericht. Trat Atticus wirklich nur in den Ku-Klux-Klan ein, um zu sehen, wie die Kapuzenmänner ticken? Steckt der weiße Ritter wirklich noch in der Grauzone der Realpolitik oder schon knietief im Rassismus-Sumpf?

Hatte vor Entstehen des Buchs das Supreme-Court-Urteil gegen Rassentrennung in Schulen (1954) Furore gemacht, so zeigten jüngst die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Ferguson, wie traurig-aktuell der Roman nach fast 60 Jahren noch ist.

Leider glückt die Verschmelzung von Entwicklungsdrama und ideologischem Duell hier nur bedingt. So hisst Harper Lee über dem familiären Grabenkrieg doch noch die fadenscheinige Friedensfahne, wenn Jean Louise die unverbrüchliche Liebe ihres Vaters begreift. Als einzig sichere Erkenntnis bleibt ihr nur: Erwachsenwerden tut weh. Immerhin ist dieses literarisch ärmere der beiden Bücher auch das moralisch schillerndere - doch ohnehin wird man eins nicht mehr ohne das andere lesen können.

Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter. Roman, aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. DVA, 314 S., 19,99 Euro.

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