Berliner Obdachlosen-Fall Die Öffentlichkeit fahndet mit

Berlin · Sechs der sieben mutmaßlichen Täter, die einen Obdachlosen in Berlin anzündeten, stellten sich der Polizei - weil das Video einer Überwachungskamera ihre Gesichter öffentlich machte.

 Wieder wird eine Berliner U-Bahnstation zum Tatort – diesmal zündeten sieben Männer in der Schönleinstraße einen schlafenden Obdachlosen an. FOTO: DPA

Wieder wird eine Berliner U-Bahnstation zum Tatort – diesmal zündeten sieben Männer in der Schönleinstraße einen schlafenden Obdachlosen an. FOTO: DPA

Foto: dpa

Wenn es draußen besonders kalt und ungemütlich wird, schließen die Berliner Verkehrsbetriebe auch nachts ihre U-Bahnhöfe nicht. Obdachlose können in den Stationen dann Wärme finden. In der Heiligen Nacht jedoch war der unterirdische Bahnhof Schönleinstraße für einen 37-jährigen Wohnungslosen keine Zufluchtsstätte, sondern ein sehr gefährlicher Ort: Sieben Jugendliche zündeten gegen zwei Uhr das Zeitungspapier an, mit dem er sich zugedeckt hatte. Schnell handelnden Passanten, die die Flammen erstickten, ist es zu verdanken gewesen, dass der Mann körperlich unversehrt blieb.

Die Tat im Bezirk Neukölln hat aber nicht nur wegen ihrer Brutalität bundesweite Beachtung gefunden, sondern auch wegen der maximal öffentlichen Art der Ermittlung und der nicht weniger öffentlichen Beweisaufnahme: Am späteren Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages stellte die Berliner Polizei Fotos der gesuchten jungen Männer ins Internet, die Überwachungskameras kurz nach dem Brandanschlag auf den Obdachlosen aufgenommen hatten – das entsprechende Video verbreiteten die Fahnder gleich mit. Die Boulevardzeitung „B.Z.“ nahm die Fotos der Tatverdächtigen unter der Schlagzeile „Feige und flüchtig“ am Dienstag auf die Titelseite und gelobte, dies nun täglich zu tun, „bis alle gefasst sind“.

Sechs von ihnen haben sich jetzt auf verschiedenen Wachen gestellt, einer wurde von Zivilfahndern in der Nähe seiner Meldeadresse festgenommen – nachdem seine mutmaßlichen Komplizen dessen Namen verraten hatten. „Offensichtlich haben die Betroffenen so einen Druck verspürt, dass sie sich gemeldet haben“, sagte eine Sprecherin der Polizei. „Wenn die halbe Nachbarschaft dein Fahndungsfoto sieht“, ergänzt Petra Reetz, Sprecherin der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), die das Videomaterial zur Verfügung gestellt haben, „dann weißt Du, dass Du keine Chance mehr hast.“

Eine Fahndung in diesem Stil greift tief in die Persönlichkeitsrechte von Menschen ein, die zu diesem Zeitpunkt lediglich Verdächtige und noch nicht überführt sind – das weiß auch die Polizei. Sie war es schließlich, die am Mittwoch mitteilte, dass ein 21-Jähriger aus der Gruppe im Mittelpunkt der Tat steht und damit als Hauptverdächtiger gelten darf. Im Umkehrschluss heißt das, dass von den anderen sechs per Video Gesuchten am Ende möglicherweise manchen nur eine weniger schwere Straftat wie unterlassene Hilfeleistung vorzuwerfen sein könnte.

Hohe rechtliche Hürden gibt es daher für solche öffentlichen Fahndungen im Vorfeld. „Ein Richter muss seine Zustimmung geben“, erläutert die Berliner Polizeisprecherin anhand der Strafprozessordnung, die als weitere Voraussetzungen definiert, dass eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegen und die Polizei alle sonstigen ermittlungstechnischen Optionen wie etwa die Zeugenbefragung ausgeschöpft haben muss. „Als letztes Mittel“ bezeichnet der Stuttgarter Polizeisprecher Thomas Doll daher „die Öffentlichkeitsfahndung mit Bildern – in Absprache mit der Justiz“.

Nur 48 Stunden lang werden die Aufnahmen der 13 640 im öffentlichen Nahverkehr eingesetzten Kameras gespeichert, berichtet BVG-Sprecherin Reetz, wie es mit den Datenschutzbehörden vereinbart worden ist. Mehr als 7000 mal hat die Polizei 2015 Material aus Überwachungskameras angefordert, während es 2008 noch etwas mehr als 2000 Sichtungen waren – mit Erfolg, wie Reetz mit Blick auf die rückläufige Zahl von Übergriffen auf Personen meint: „Das hat eine abschreckende Wirkung.“

Zur neuen Öffentlichkeit gehört auch die stärkere Verbreitung von Polizeivideos in sozialen Netzwerken. „In Sachen Social Media ist 2016 für die Polizei das Jahr mit der größten Weiterentwicklung“, hat Thomas-Gabriel Rüdiger von der Fachhochschule der Polizei Brandenburg gesagt. Der Twitter-Auftritt der Münchner Polizei während des Amoklaufs im Sommer gilt dabei als wegweisend. Rüdiger zufolge haben rund 90 Polizeiinstitutionen inzwischen aktive Accounts – 2012 waren es 19.

Den sieben jungen Männern im Alter von 15 bis 21 Jahren ist die Polizei mit diesen teils neuen und teils umstrittenen Mitteln habhaft geworden. Sechs von ihnen sind in Syrien geboren, einer in Libyen, sie sind als Flüchtlinge eingereist“, sagte eine Polizeisprecherin am Mittwoch. Für alle sieben Verdächtigen hat die Berliner Staatsanwaltschaft Haftanträge „wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes“ beantragt.

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