Rückblick Erdbeben erschütterte vor 20 Jahren die Türkei

Gölcük · Am 17. August 1999 erschütterte ein schweres Erdbeben den Nordwesten der Türkei. Innerhalb von Minuten starben mindestens 17.000 Menschen. Eine neue Katastrophe ist möglich.

Palmen säumen die Uferpromenade von Gölcük. Auf dem Spielplatz toben Kinder aus den Häusern am Ufer. In so einem Haus starb am 17. August 1999 sein Bruder mit Frau und Kindern, erzählt der Tabakhändler Osman Özkan: Damals erschütterte ein schweres Erdbeben den Nordwesten der Türkei. Der Wohnblock der Familie wurde vom Meer verschluckt. Erst nach neun Tagen waren die Trümmer so weit abgeräumt, dass Özkan die Leichen aus dem Wasser ziehen und bestatten konnte.

Das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,4 lag ein paar Kilometer außerhalb von Gölcük. Innerhalb von Minuten starben mindestens 17 000 Menschen. Fast 300 000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört, eine halbe Million Menschen wurden obdachlos. Zwanzig Jahre später warnen Experten vor der Gefahr eines neuen Bebens – das diesmal auch die 15-Millionen-Stadt Istanbul treffen könnte.

Fahis Duran saß um drei Uhr morgens auf dem Balkon, wegen der Hitze. An den gewaltigen Krach erinnert er sich, mit dem die Dachziegel klapperten. An die Staubwolken. Und an die Hilflosigkeit – kein Strom, kein Telefon, keine Verbindung zur Außenwelt. Nach dem Unglück verließ Duran die Stadt. Mit 72 Jahren sitzt er heute auf einem Platz im Zentrum und zeigt umher. „Da hinten stand ein nagelneues Gebäude. Es sackte in sich zusammen – platt wie eine Flunder.“ Den ersten Rettungstrupp sah Duran erst Tage später.

Auch heute ist die Gefahr eines neuen Bebens allgegenwärtig. Gölcük liegt an der „Nordanatolischen Verwerfungslinie“: Immer wenn sich dort genügend Druck aufbaut, bebt die Erde. Doch trotz aller moderner Messmethoden kann die Wissenschaft nicht voraussagen, wo und wann es so weit sein wird. Dass es irgendwann krachen wird, ist dagegen sicher.

Istanbul ist in Gefahr

Osman Özkan fürchtet sich nicht. Er habe 1999 schon alles verloren, sagt er: 29 seiner Verwandten starben in jener Nacht. Anderen stehe das noch bevor, meint der 52-jährige mit Blick auf die dichte Uferbebauung: Eine schöne Aussicht sei vielen offenbar wichtiger als Sicherheit – und das nächste Beben komme bestimmt.

Genau daran wollen viele Bewohner heute nicht mehr glauben – so wie der 80-jährige Yunus Usta, der in der Nähe einer Fähranlegestelle an seinem Boot herumpusselt. Der Rentner wohnte schon 1999 am Ufer. Sein Haus hielt stand. Nur sein Sohn wurde verletzt, als er sich über sein 15 Tage altes Baby warf – der Säugling überlebte.

Anderen erging es schlecht, erinnert sich Usta: den Angestellten eines Nachtclubs, den Gästen eines Hotels, vielen Nachbarn – alle starben. Dennoch fürchtet Usta kein neues Erdbeben. „Bei dem 99er Beben hat sich die Spannung hier gelöst, deswegen passiert die nächsten 100 Jahre nichts mehr.“ Eine Theorie, die in Gölcük immer wieder zu hören ist. „Jetzt sind die nächsten dran“, sagt Usta und weist in die Ferne: „Istanbul.“

Dass Gölcük erst einmal sicher ist, kann Haluk Özener nicht bestätigen – dass Istanbul in Gefahr ist, dagegen schon. Der Leiter des Erdbebenzentrums „Kandilli“ der Istanbuler Bosporus-Universität überwacht mit seinem Team die Verwerfungslinie. Die Daten seien eindeutig. „Es gibt Bewegung, es gibt die Erdbeben der Vergangenheit, es gibt Energie, die sich aufbaut – und die irgendwann rauskommt.“ Vielleicht auch in Istanbul. „Ich hoffe, das Beben wartet, bis wir bereit sind.“

Wohnblöcke werden zu Todesfallen

Bisher ist man es nicht. Das Katastrophenamt AFAD schätzt, dass ein schweres Beben rund 30 000 Menschen töten und 150 000 obdachlos machen würde. Je nach Stärke und Ort des Bebens könnte zudem ein Tsunami durch die Uferbereiche von Istanbul rollen. Dennoch tut die Stadt, als gäbe es keine Gefahr. Straßen, die als Rettungswege gekennzeichnet sind, sind wegen trotz Parkverbots abgestellter Autos kaum passierbar.

Der wichtigste Grund für das Katastrophenszenario ist jedoch der weit verbreitete Pfusch am Bau. Die Bauingenieurskammer hat errechnet, dass zwei von drei Bewohnern in vorschriftswidrigen Gebäuden wohnen. Nach Angaben von Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim müssten bis zu 50 000 Gebäude in Istanbul dringend erdbebenfest gemacht werden.

Manche Wohnblöcke werden auch ohne Erdbeben zu Todesfallen. Im Februar stürzte im Stadtteil Kartal ein achtstöckiges Haus ein – 21 Menschen starben. Die Besitzer hatten drei zusätzliche Stockwerke auf die fünf genehmigten gesetzt. Der Staat segnete das im Rahmen einer Amnestie für Bausünder ab; sie lief noch bis Juni.

Schwierig dürften nicht nur die Rettungsarbeiten nach einem Erdbeben werden. Auch auf die Frage, wie eine 15-Millionen-Stadt nach so einem Unglück versorgt werden sollen, gibt es keine überzeugenden Antworten. AFAD rät, man solle Nahrungsmittel für 72 Stunden im Haus haben, zudem einen „Erdbebenkoffer“ mit Wasser, Konserven, Decken und einem Erste-Hilfe-Kasten. Viele bezweifeln, dass dies viel helfen wird. Ein Beben könne jederzeit hereinbrechen, schrieb der Kolumnist Candas Tolga Isik kürzlich. „Dann werden sich die Toten glücklich schätzen.“

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