Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung So erlebte ein Deutscher die Explosion in Beirut

Beirut · Nach der Explosion in Beirut steht die Stadt unter Schock. Mehr als 100 Menschen kamen ums Leben, Tausende wurden verletzt. Kristof Kleemann arbeitet in Beirut und hat die Detonation aus etwa einem Kilometer Entfernung erlebt. Am Tag danach sprach er mit dem General-Anzeiger.

 Ein Wachmann eines Audi-Autohauses steht vor den zerstörten Ausstellungsräumen, die in Folge einer massiven Explosion im Hafen von Beirut beschädigt wurden.

Ein Wachmann eines Audi-Autohauses steht vor den zerstörten Ausstellungsräumen, die in Folge einer massiven Explosion im Hafen von Beirut beschädigt wurden.

Foto: dpa/Marwan Naamani

Kristof Kleemann ist seit einem halben Jahr Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Beirut. Außer ihm arbeiten noch fünf Libanesen in dem Büro der FDP-nahen Stiftung. Die beiden Detonationen hat er zu Hause, aus etwa einem Kilometer Entfernung, erlebt. Am Tag danach sprach mit ihm Bernd Eyermann.

Wie geht es Ihnen?

Kristof Kleemann: Den Umständen entsprechend gut, immer noch leicht unter Schock, aber ich bin froh, dass es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Stiftung und mir selbst gut  geht, wir alle keine größeren Blessuren davon getragen haben. Froh bin ich auch, dass es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis nur kleinere Blessuren gab, aber keine größeren Verletzungen.

Über 100 Tote und mehr als 4000 Verletzte sind zu beklagen. Wie haben Sie die Explosionen erlebt?

Kleemann: Ich bin kurz zuvor von der Arbeit in meine Wohnung gekommen, hab mich hingesetzt und wollte gerade etwas lesen. Die erste kleinere Detonation fühlte sich schon wie ein Erdbeben an, ein paar Minuten später gab es die Riesenexplosion, bei der auch diese pilzartige Form zu sehen war, die man sonst nur von Atombombenexplosionen kennt. Dann gab es eine umheimlich starke Druckwelle.

Wie kann man sich die Örtlichkeit vorstellen?

Kleemann: Vom Hafen aus geht es hügelartig nach oben. Deshalb verbreitete sich die Druckwelle dort auch am stärksten. Ich wohne etwa einen Kilometer vom Unglücksort entfernt. Als ich die Druckwelle anfing zu spüren, habe ich mich geistesgegenwärtig hinter einer Wand versteckt. Das war auch gut so, denn meine Wohnung ist nun komplett unbewohnbar.

Wie sieht es da aus?

Kleemann: Alle Fenster sind rausgerissen worden, alle Türen aus den Angeln gerissen. Zum Teil liegen die Türen in ganz anderen Zimmern. Ich hatte wirklich Glück im Unglück. So wir mir geht es vielen Beirutern, deren Wohnungen zerstört worden sind.

Sind Sie noch arbeitsfähig?

Kleemann: Ja, das Büro ist zwar auch beschädigt, aber weit weniger als meine Wohnung, weil es viel weiter vom Unglücksort entfernt liegt. Internet und Strom funktionieren auch, allerdings haben wir generell nur zwei Stunden verlässlichen Strom am Tag. Der Rest wird über Generatoren abgedeckt.

 Kristof Kleemann, Leiter des Beiruter Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung

Kristof Kleemann, Leiter des Beiruter Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung

Foto: privat

Wie groß ist der Schock in der Bevölkerung?

Kleemann: Der Schock sitzt ganz tief. Viele Menschen haben ihre Wohnung verloren. Tausende sind verletzt, wie viele gestorben sind, ist weiter unklar. Und das alles in einem Land, das ohnehin arg gebeutelt ist. Man darf nicht vergessen, dass der Libanon gerade durch die tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seiner Geschichte geht. Dazu kommt die Corona-Pandemie, die die Krankenhäuser schon bisher an die Kapazitätsgrenzen geführt hat. Jetzt ist das medizinische Personal noch weit mehr belastet. Ohne Unterstützung aus dem Ausland wird es nicht gelingen, die Katastrophe zu bewältigen. Es gibt einen Mangel an Medikamenten und medizinischem Equipment im Land. Ich bin froh, dass die internationale Gemeinschaft schon Hilfe zugesagt hat.

Sie sind seit einem halben Jahr in Beirut. Wie hat sich das Leben in der Stadt in dieser Zeit verändert?

Kleemann: Ohne Strom ist Beirut schon vor den Explosionen abends und nachts zur Geisterstadt geworden, weil die Straßenbeleuchtung nicht mehr eingeschaltet werden kann. Und in den Häusern funktionieren Kühlschränke, Klimaanlagen und Steckdosen oft nicht mehr. Inzwischen gibt es auch erste Internetausfälle. Gerade die ärmere Bevölkerung kämpft jeden Tag ums Überleben. Ein Kilo Reis hat vor zwei Monaten noch 5000 libanesische Pfund gekostet, jetzt sind es 15 000, gleichzeitig sind die Gehälter aber entweder gleich geblieben oder sogar gesunken.

Gibt es weitere Bevölkerungsgruppen, die betroffen sind?

Kleemann: Weil die Arbeitslosigkeit stark steigt, inzwischen auf 40 Prozent, und die Kaufkraft sinkt, ist auch die Mittelschicht von der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise immer stärker betroffen. Der dreimonatige Corona-Lockdown im Frühjahr hat zudem dazu beigetragen, dass der Tourismus als wichtigste Einnahmequelle des Landes völlig ausgefallen ist. Die finanzstarken Bewohner der Golfstaaten sind nicht mehr gekommen, mit Folgen für die gesamte Bevölkerung im Libanon. Hier spielt sich eine große Krise ab.

Woran liegt das?

Kleemann: Die beiden wichtigsten Gründe sind hausgemacht. Erstens: Das politische System, das auf dem Prinzip des fein austarierten Gleichgewichts der Religionsgruppen beruht, ist kaum reformierbar. Bei jeder Reform droht die Benachteiligung von mindestens einer Gruppe, womit die Machtbalance ins Wanken geriete. Also ändert man lieber gar nichts.

Und zweitens?

Kleemann: Wirtschaftlich hat das Land lange davon profitiert, dass Auslands-Libanesen viele Dollars nach Hause geschickt haben. Doch von dort kommt immer weniger an Geld. Verschärft wird die Situation auch dadurch, dass der Libanon mit seinen fünf Millionen Menschen insgesamt 1,5 Millionen Syrer aufgenommen hat und diese nun immer weniger Beschäftigung in Bau- oder Landwirtschaft haben. Die Libanesen haben eine große Aufnahmebereitschaft bewiesen, in der Krise ist es allerdings eine immense Herausforderung für Staat und Gesellschaft. Um Syrer zu bewegen, das Land zu verlassen, würden zuweilen auch schon einmal willkürlich Flüchtlingslager geschlossen.

Droht eine Flüchtlingswelle aus dem Libanon, wenn sich die Krise im Land weiter verschärft?

Kleemann: Viele gut ausgebildete Ingenieure, Ärzte oder Ökonomen aus der libanesischen Mittelschicht sind jetzt schon auf dem Sprung. Wenn die Elite geht, wird es noch mal dramatischer. Außerdem könnte ein Zusammenbruch des Staates dazu führen, dass die Schiitenmiliz Hisbollah und Reste des IS gestärkt werden und die Region noch instabiler wird. Also muss Europa ein großes Interesse daran haben, dass sich der Libanon wieder stabilisiert.

Was kann die internationale Gemeinschaft – außer der Soforthilfe nach dem Unglück – tun, um dem Libanon zu helfen?

Kleemann: Grundvoraussetzung ist der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen der Beiruter Regierung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF). Im Gespräch ist eine Nothilfe von zehn Milliarden Dollar, doch nach drei Monaten und 17 Verhandlungsrunden ist immer noch kein Ergebnis in Sicht. Auch weil der Libanon Reformauflagen des IWF nicht erfüllt. Vor wenigen Tagen war der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian in Beirut, um der Regierung ins Gewissen zu reden. Doch von Reformbereitschaft war auch bei diesem Besuch nicht die Rede.

Welchen Eindruck haben Sie von der Regierung?

Kleemann: Sie will den Ernst der Lage nicht wahrhaben und rennt sehenden Auges in eine Katastrophe. Bis zum Herbst dürften alle Dollar-Reserven aufgebraucht sein. Dann steht kein Geld mehr bereit, um Nahrungsmittel, wichtige Medikamente, Öl und Benzin zu kaufen. Dann wären allein eine halbe Million Kinder akut gefährdet und Europa müsste, statt über IWF-Kredite zu verhandeln, humanitäre Hilfe leisten, um die Krise abzufedern, also den notleidenden Menschen zu helfen und den Staat zu stabilisieren.

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