Missbrauchsfall von Lügde Auf welche Signale Eltern bei Kindern achten sollten

Berlin · In wenigen Wochen startet der Prozess gegen Andreas V., der auf einem Campingplatz in Lügde über Jahre hinweg Kinder missbraucht haben soll. Kinderschützerin Julia von Weiler vom Verein "Innocence in Danger" erklärt, welche Lehren wir alle aus dem Fall ziehen können.

Der Verein „Innocence in Danger“ setzt sich weltweit gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und die Verbreitung von Kinderpornographie ein. Wir haben mit der Berliner Geschäftsführerin, der Diplom-Psychologin Julia von Weiler, über den Missbrauchsfall von Lügde gesprochen.

Auf einem Campingplatz in Lügde sollen über eine Zeit von mindestens zehn Jahren Kinder in hunderten Fällen sexuell missbraucht worden sein. Wie kann so etwas in doch weiten Teilen unbemerkt bleiben?

Von Weiler: Man darf im Fall von Lügde nicht vergessen, dass es Leute gegeben hat, die etwas bemerkt haben und alle richtigen Schritte gegangen sind – aber offenbar nicht gehört wurden. Es hat in diesem Fall ein echtes Systemversagen gegeben. Dazu kommt aber: Solche Täter sind hochgradig manipulativ, nicht nur bei Kindern, sondern auch mit deren Umfeld. Dafür muss man nicht intelligent sein, sondern emotional einfach nur ein guter Manipulator. Ich bin mir trotzdem sicher, wenn man heute mit den Leuten vor Ort spricht, werden einige sagen: Ich fand den immer schon komisch.

Wie schaffen die Täter es, so viele Kinder zu manipulieren, dass sie nichts erzählen?

Von Weiler: Sie gehen strategisch vor, verfolgen eine klare Absicht und sind Kindern einfach allein dadurch überlegen, dass sie ja viel älter sind. Kinder reagieren aber eher unmittelbar und machen sich keine Gedanken darüber, ob es versteckte Absichten gibt, wenn jemand sie zu einem Ausflug einlädt oder ihnen Geschenke macht. Sind Kinder erst einmal in der Geheimnisfalle gefangen und in den Missbrauch verstrickt, dann schämen sie sich. Sie fühlen sich beschmutzt und schuldig. Das macht es ihnen schwer zu sprechen.

Die Täter vermitteln Ihnen dieses Gefühl?

Von Weiler: Ja, so agieren die Täter, sie geben den Kindern die Schuld, sagen: Du wolltest es doch, du bist ja immer wieder zu mir gekommen. Oder sie drohen ihnen: Wenn das raus kommt, kommst du ins Heim, deine Eltern werden wahnsinnig enttäuscht von dir sein.

Auf welche Signale können Eltern denn achten?

Von Weiler: Auf Veränderungen. Wenn ein Kind erst vier ist, wird es nicht sagen: Der Mann hat mich missbraucht. Verhaltensänderungen sind die Sprache der Kinder und es ist der Job der Erwachsenen, herauszufinden, was mit ihnen los ist. Kinder sind einfach Kinder. Ich finde, dass wir immer noch viel zu viel Verantwortung für den Kinderschutz auf die Schultern von Kindern legen. Wir können nicht erwarten, dass ein kleines Kind versteht, was mit ihm gemacht wird und dann auch noch die Konsequenz zieht, dort nicht mehr hinzugehen. So funktioniert das Leben nicht. Kinder brauchen Erwachsene, die aufmerksam sind, hinsehen - und dann aber bitte auch eingreifen. Man sollte seine Kinder auch dabei unterstützen, seine Grenzen für sich wahren zu können. Wenn es dem Onkel keinen Gute-Nacht-Kuss geben will, sollte es das nicht müssen, zum Beispiel.

Viele Erwachsene sind vermutlich gehemmt, weil sie niemanden zu Unrecht beschuldigen wollen.

Von Weiler: Jeder von uns wünscht sich: In meinem Kosmos gibt es das nicht. Aber das ist eine Illusion. Missbrauch geschieht überall jeden Tag. Ich erwarte gar nicht, dass Eltern oder Lehrer immer genau wissen, wie sie welches Verhalten eines Kindes entschlüsseln können. Aber wenn das Kind eine äußere Verletzung hat, geht man ja auch zum Arzt. Man wendet sich an einen Profi. Im Verdachtsfall von sexuellem Missbrauch gibt es zum Beispiel das Hilfetelefon Missbrauch (0800-22 55 530), da kann man kostenlos und anonym anrufen und sich beraten lassen. Man sollte seiner Wahrnehmung trauen. Am Ende muss ich ja nicht entscheiden, ob es strafrechtlich relevant ist oder nicht. Das ist nicht mein Job als Mutter oder Vater. Mein Job ist es aber, für meine Kinder da zu sein – und auch, Erwachsene anzusprechen, wenn ich das Gefühl habe, dass sie befremdlich mit Kindern umgehen.

Oft sind die Täter Menschen, die sehr nah dran sind, keine Fremden. Wollen das viele gar nicht wahrhaben?

Von Weiler: Eine Million Kinder werden jedes Jahr zu Opfern. Wir alle kennen Täterinnen und Täter. Weil wir alle Mädchen und Jungen oder Frauen und Männer kennen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Und wenn wir die Statistiken ernst nehmen, dann wissen wir, dass 80 bis 90 Prozent der Taten im sozialen Nahfeld statt finden. Das wollen wir uns aber nicht vorstellen – nicht in meinem Freundeskreis, nicht in meiner Nachbarschaft, nicht in meiner Stadt. Wir schieben weg, was wir uns nicht vorstellen wollen. Niemand sollte leichtfertig mit Vermutungen umgehen, aber die Scheu, jemanden vielleicht zu Unrecht zu beschuldigen, sollte uns bitte nicht davon abhalten, mit der Vermutung umzugehen.

Was können wir aus dem Fall Lügde lernen?

Von Weiler: Wir müssen lernen, dass sexueller Missbrauch nicht etwas ist, was Sonntagsabend im Tatort geschieht. Die Tatsache, dass es im Laufe der Jahre immer wieder Hinweise auf denselben Mann gab, zeigt das eklatante Versagen von Jugendamt und Polizei. Das zeigt, wie schwer es für die Opfer ist, sich mitzuteilen. Weil das Umfeld es sich nicht vorstellen will. Ich erwarte aber von Profis, dass sie sich genau das vorstellen können und wissen, was sie zu tun haben und handeln.

Können sexuell missbrauchte Kinder wieder zu einem normalen Leben finden?

Von Weiler: Kindesmissbrauch wird immer ein Teil der Lebensgeschichte dieser Kinder bleiben, aber mit der richtigen Unterstützung lernen sie, gut damit zu leben. Was mir im Fall von Lügde allerdings in der Seele weh tut, ist die Tatsache, dass der Missbrauch gefilmt und verbreitet wurde. Das wird die Kinder ihr Leben lang begleiten. Mit dem Wissen umzugehen, dass Menschen sich diese Filme anschauen, um sich sexuell daran zu erregen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort