Neuer Gesetzentwurf in der Türkei Frauenrechtlerinnen befürchten Amnestie für Vergewaltiger

Istanbul · Die türkische Regierung bringt mit einem Gesetzentwurf Frauenrechtlerinnen gegen sich auf. Sie fürchten die Rückkehr zu erzkonservativen Gesellschaftsmodellen.

 Ein Mahnmal gegen die Gewalt stellen diese an einer Fassade in Istanbul installierten High Heels dar. Sie symbolisieren 440 Frauen, die in einem Jahr in der Türkei ermordet wurden.

Ein Mahnmal gegen die Gewalt stellen diese an einer Fassade in Istanbul installierten High Heels dar. Sie symbolisieren 440 Frauen, die in einem Jahr in der Türkei ermordet wurden.

Foto: picture alliance/dpa/Xu Suhui

Türkische Frauenorganisationen befürchten eine Amnestie für Vergewaltiger durch einen Gesetzesentwurf der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kindesmissbrauch soll demnach rückwirkend für straffrei erklärt werden, wenn der Altersunterschied zwischen Opfer und Täter nicht mehr als 15 Jahre beträgt, keine Strafanzeigen vorliegen und der Täter das Opfer geheiratet hat. Erdogans Regierungspartei AKP betont, der Staat müsste verhindern, dass die Kollision der modernen Strafgesetze mit der Tradition der Verheiratung von Minderjährigen Tausende Familien ins Unglück stürze. Frauenrechtlerinnen sprechen dagegen von einem Versuch, eine konservative Familienpolitik durchzusetzen, um die Türken dazu zu bringen, früh zu heiraten und möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen.

Der Streit um das Gesetz offenbart nicht nur die Gräben in der türkischen Gesellschaft, sondern wirft auch die Frage auf, wie ein Land mit Traditionen umgehen soll, die im Gegensatz zu modernen Rechtsnormen stehen. Die AKP verweist darauf, dass sie es war, die im Jahr 2004 die Straffreiheit für Vergewaltiger bei einer Heirat mit ihrem Opfer abschaffte – eine entsprechende Bestimmung war bis dahin im Strafgesetzbuch verankert gewesen.

Reaktion auf soziale Realität

Für die Regierung ist das neue Vorhaben wichtig, um ihre konservative Basis bei der Stange zu halten. Regierungspolitiker verteidigen den Entwurf für die Amnestie als notwendige Reaktion auf die soziale Realität im Land, in dem die Ehemänner von Tausenden minderjährigen Mädchen hinter Gittern sitzen. Obwohl das heiratsfähige Alter in der Türkei bei 18 Jahren liegt, werden Mädchen insbesondere auf dem Land oft minderjährig in sogenannten Imam-Ehen verheiratet, religiösen Eheschließungen ohne rechtliche Gültigkeit. Ist der Ehemann volljährig, macht er sich dadurch des Kindesmissbrauchs schuldig – ein Straftatbestand, der oft erst dann ans Licht kommt, wenn das Mädchen zur Entbindung eines Kindes in ein staatliches Krankenhaus eingeliefert wird. Rund 4000 Familien gebe es, in denen der Vater deshalb im Gefängnis sitze und die offiziell unverheiratete junge Mutter mit ihren Kindern allein und oft mittellos sei, sagt die Regierung.

Vor vier Jahren hatte die AKP schon einmal einen Amnestieentwurf ins Parlament eingebracht, die Vorlage wegen heftiger Proteste aber wieder zurückgezogen. Nun kommt das Thema im Rahmen eines neuen Amnestiepaketes wieder auf den Tisch, das die AKP und ihre nationalistische Partnerin MHP durchsetzen wollen. Die MHP fordert unter anderem Strafnachlässe für rechtsgerichtete Täter. Medienberichten zufolge sollen zudem die Vorschriften für Unterhaltszahlungen nach Scheidungen zugunsten der Zahler – in den meisten Fällen sind das die Männer – gelockert werden.

200 Frauenverbände protestieren

Rund 200 Frauenverbände protestierten in einer gemeinsamen Erklärung gegen das neue Paket. Sie befürchten eine gesellschaftspolitische Wende in die Vergangenheit. Die Frauenrechtsanwältin Selin Nakipoglu sagte unserer Zeitung in Istanbul, in der AKP sei zu hören, dass die Forderung nach der Amnestie von islamistischen Gruppen ausgehe. Die geplante Regelung verstoße gegen die türkische Verfassung und gegen internationale Verträge. „Dieser Entwurf wird nicht Gesetz werden, und das darf er auch nicht“, sagte sie. Nakipoglu und andere sehen eine klare politische Absicht hinter der Vorlage. Unter dem Deckmantel der Rücksichtnahme auf angebliche Opfer moderner Gesetze werde hier versucht, erzkonservative Normen des Familienlebens zu verankern, sagte die Frauenrechtlerin Hülya Gülbahar. Sie hat die AKP im Verdacht, ihre konservativen Vorstellungen auch auf anderen Gebieten wie der Abtreibung oder der Geburtenkontrolle durchsetzen zu wollen.

Die Regierung mag das zurückweisen – doch sie selbst und ihre Anhänger stärken die Befürchtungen der Frauenrechtlerinnen immer wieder. Erdogan beklagte kürzlich, dass die Türken immer später heirateten und die Zahl der Ledigen immer weiter wachse. Der Präsident drängt die Türken seit Jahren, jedes Ehepaar solle mindestens drei Kinder in die Welt setzen, um das Land vor der Vergreisung zu bewahren.

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