Gastronomie in Großbritannien Gezahlt wird für die Zeit, nicht das Essen

London · Das englische Café "Ziferblat" setzt auf ein neues Konzept, bei dem für die verbrachte Zeit im Café bezahlt wird, das Essen und die Getränke sind jedoch umsonst. Damit soll das Café vor allem als Ort der Begegnung für seine Besucher dienen.

 Gemütlicher Oma-Chic: Das „Ziferblat“ verbreitet heimelige Atmosphäre – und lockt ganz unterschiedliches Publikum an.

Gemütlicher Oma-Chic: Das „Ziferblat“ verbreitet heimelige Atmosphäre – und lockt ganz unterschiedliches Publikum an.

Foto: Katrin Prybil

Unten an der Tür verrät nur ein kleines Klingelschild, dass sich in dem Gebäude das gesuchte Café „Ziferblat“ versteckt. Kann es wirklich hier sein? Dann geht schon die Tür auf. Auf in den ersten Stock, wo sich, einmal die geschäftige Hauptstraße hier im Londoner Osten hinter sich gelassen, eine Gemütlichkeit offenbart, die an Wohngemeinschaften erinnert.

Sobald der Besucher den warmen Raum betritt, beschleicht ihn das Gefühl, als komme er in das Wohnzimmer von Freunden. Bücher stehen keineswegs zur Dekoration in den Regalen, sondern wirken gelesen, ein Klavier lädt zum Spielen ein, die abgewetzten Sofas und Sessel sowie die Teppiche und Lampenschirme verbreiten im angesagten Oma-Chic eine heimelige Atmosphäre. Dennoch: Es ist ein Café, nur eben anders.

Das Café als Gemeinschaftsraum

In der angrenzenden Küche gibt es Kuchen und Kekse, Kaffee und Tee, Obst und Müsli. Jeder kann, jeder soll sich bedienen. Denn im „Ziferblat“ ist alles umsonst. Nur für eines müssen die Besucher bezahlen: für die Zeit, die sie hier verbringen. Zwei Stunden – fünf Pfund. Drei Stunden – sechs Pfund. Solange man will – zwölf Pfund. Das Pay-per-hour-Prinzip kommt an in Großbritannien. Neben dem „Ziferblat“ in London existieren drei weitere Cafés auf der Insel, zwei in Liverpool sowie eines in Manchester. In der nordenglischen Stadt wird zudem demnächst eine zweite Zweigstelle öffnen.

Marketingmanager Ben Davies versucht, die gestandenen Begrifflichkeiten zu vermeiden. „Wir versuchen weniger ein Café zu sein, sondern wollen vielmehr einen Gemeinschaftsraum anbieten“, erklärt er das Konzept, das der Russe Ivan Meetin vor einigen Jahren in seiner Heimatstadt Moskau umsetzte und dann mit Erfolg exportierte. Das „Ziferblat“ als Ort des Verweilens statt des schnellen Konsums sei die Antwort auf veränderte Lebens- und Arbeitsgewohnheiten. „Der Trend geht dahin, dass wir immer globaler werden“, so Davies. Dafür bräuchten die Menschen einen Raum in der Nähe, den sie flexibel nutzen könnten und der an den Einzelnen angepasst sei – „eben so, wie jeder will“.

Das neue Konzept kommt an

Das Bild in dem Londoner Ableger im hippen Stadtviertel Shoreditch bestätigt Davies' Beschreibung. In einer Ecke sitzen zwei Freiberufler vor ihren Laptops, drei Mütter treffen sich mit ihren Babys zum Plausch und Kaffee, ein Pärchen sitzt knutschend auf der Couch, an einem Tisch findet derweil ein Geschäftstreffen von selbstständigen Architekten statt. Außerdem verweisen Flyer auf hier veranstaltete Yoga-Kurse und Lesungen, Konzerte und Partys.

Der Prozentsatz jener, die das Selbstbedienungskonzept ausnutzen und nur kurz einkehren, dafür aber überdurchschnittlich viel essen und trinken, ist, sagt Davies, „deutlich geringer, als man erwarten würde“. Warum also hat es das ungewöhnliche Bezahlsystem noch nicht in Städte in Deutschland geschafft? Laut Davies gibt es dafür keinen speziellen Grund. „Wir würden gerne überall in Europa sein wie beispielsweise in Berlin, Amsterdam und Paris, zudem in den USA.“ Doch: „Du willst gehen können, bevor du anfängst zu rennen.“ Übersetzt dürfte das so viel bedeuten wie: Es dauert noch. Die Uhren ticken hier eben anders, auch wenn Zeit im „Ziferblat“ tatsächlich Geld ist.

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