Legalisierung und Folgen Kanada eröffnet weltweit größten Markt für Cannabis

Kanada · Die Entkriminalisierung von Cannabis in Kanada sorgt für viele Debatten. GA-Volontärin Katharina Weber war vor Ort und berichtet über den medizinischen Nutzen, grasfreundliches Reisen und was es mit Hanf als neues Wundergewebe auf sich hat.

Im Südosten Kanadas liegt der winzige Ort Langton. Eine Bankfiliale, ansonsten ländliche Idylle: Mais- und Kürbisfelder, Backsteinsilos mit bunten Dächern, Traktoren. Nur ein mit Stacheldraht umzäuntes Areal fällt aus dem Rahmen. Was die Wayland Group hier anbaut, beschützt sie gut.

„Wenn ich jemanden erwische, der Bilder macht, entferne ich die Kamera operativ von seinem Körper“, droht Jeff Ayotte einer deutschen Delegation aus Medizinern und Journalisten, die zur Besichtigung gekommen ist. Jeff ist hier für die Infrastruktur zuständig. Er überwacht die aufwendige Erweiterung der ehemaligen Tabakproduktionsanlage, die einmal zu den weltweit modernsten Anbaueinrichtungen für Cannabis werden soll. Offen spricht es niemand aus, aber die Furcht vor Industriespionage liegt in der Luft.

Ein gigantisches Geschäft: 2017 belief sich der weltweite Markt für legales Cannabis auf 9,5 Milliarden US-Dollar und wuchs binnen eines Jahres um 40 Prozent, sagt der Marktforscher BDA-Analytics. Den Löwenanteil daran haben die USA, gefolgt von Kanada. In den nächsten zehn Jahren könnte der Markt nach aktuellen Schätzungen auf 130 bis 180 Milliarden Dollar wachsen. Das größte Potenzial bietet Europa.

Für wen Cannabis nur die illegale Droge von der dunklen Straßenecke ist, wird sich die Augen reiben, ob der Ernsthaftigkeit, mit der in Langton Gras angebaut wird. „Normalerweise benötigt man 200 bis 400 Mitarbeiter, um so eine Anlage zu betreiben“, sagt Graham Farrell, Waylands stellvertretender Leiter der Kommunikation. „Hier sind es nur 26.“ Damit spart die Firma Lohnkosten, klar, aber es gibt einen weiteren Hintergrund: Erklärtes Ziel ist es, den Qualitätsstandard für medizinisches Cannabis zu setzen. „Und der Mensch“, wettert Baustellenleiter Jeff Ayotte, „ist die größte Kontaminationsquelle.“ Bis zu den Cannabispflanzen lässt der unwirsche Amerikaner die Delegation deswegen gar nicht vor.

Hygiene für ein einwandfreies Produkt

Wer in Kontakt mit dem zarten Grün kommen soll, muss vor Ort duschen, sein Smartphone draußen lassen, Make-up und Schmuck gegen Kittel, Handschuhe und Haarnetz tauschen. Schon jetzt hat sich die Anlage das GMP-Siegel der EU verdient (Good Manufacturing Practice), das eine hohe Qualität der Fabrik und der Produktionsabläufe bescheinigt.

Nur durch eine Milchglaswand erhascht die Gruppe einen Blick auf das grüne Gold: Hübsch aufgereiht stehen Hunderte Cannabispflanzen auf hüfthohen Metalltischen Topf an Topf. Unter dem Glasdach sorgen drei riesige Ventilatoren für Belüftung. Dutzende Lampen lassen auch nachts die Sonne scheinen. Das verwendete Wasser wird recycelt, so sollen nur 10 000 Liter Abwasser pro Jahr entstehen. Die Rolle des Master Growers, des leitenden Anbauers, übernimmt eine Software, die alles von der Temperatur bis zur Nährstoffversorgung steuert. Um menschliche Fehler zu vermeiden, sollen Roboter den gesamten Produktionsablauf übernehmen.

Neuerdings haben nicht nur Patienten Zugang zu Gras. Am 17. Oktober legalisierte Kanada als erster G7-Staat Cannabis auf allen Ebenen – weltweit war nur Uruguay schneller. Je nach Provinz darf jeder ab 18 oder 19 Jahren Cannabis kaufen und konsumieren. 30 Gramm getrocknete Blüten sind erlaubt, vier Pflanzen dürfen selbst angebaut werden.

Schon vor der Legalisierung war Cannabis beliebt. Statistics Canada, die Statistikbehörde der kanadischen Regierung, schätzt, dass die Kanadier 2015 fast 700 Tonnen Gras konsumiert haben. Die Behörde befragt regelmäßig Kanadier, die 15 oder älter sind, zu ihrem Umgang mit Cannabis. Bei der jüngsten Umfrage vor der Legalisierung gaben 4,6 Millionen an, im dritten Quartal 2018 Cannabis konsumiert zu haben. Das entspricht 15 Prozent der Bevölkerung. Dabei scheint Gras längst nicht mehr nur ein Mittel der Jugend zur Rebellion zu sein: Im Jahr 2015 waren nicht mal sechs Prozent der Konsumenten zwischen 15 und 17 Jahren alt, errechnete die Behörde. Zwei Drittel waren älter als 25.

Grasfreundliche Reisen, Essen mit Cannabis und Anbauhelfer

Da wundert es nicht, dass pünktlich zur Legalisierung bereits jede Menge Unternehmen ihre Dienste anbieten. Bei der ersten Cannabis Living Expo in Toronto bekommt der kanadische Grasliebhaber das Angebot geballt geliefert. „Cannabis wurde schon immer konsumiert, war schon immer zu haben, aber wegen des Stigmas gab es nie viele Informationsmöglichkeiten“, sagte der Vizepräsident der Expo, Garnet Irving, der Tageszeitung Toronto Sun. Die Messe solle Berührungsängste abbauen und der Öffentlichkeit seriöses Wissen über die Pflanze vermitteln. Dazu hatten sich Ende Oktober rund 100 Aussteller aus dem In- und Ausland in der Messehalle am Flughafen versammelt.

Einer, der es mit dem Lehrauftrag wahrscheinlich nicht so genau nimmt, aber für Gras steht wie kein zweiter, begrüßt die Besucher beim Eintritt: Snoop Dogg. Der amerikanische Rapper vertreibt seine eigene Sorte Gras und winkt überlebensgroß von einem Plakat mit den Worten „Smoke with Snoop“. Das übliche Zubehör darf nicht fehlen: Grinder zum Zerkleinern der getrockneten Blüten, Pfeifen aus Holz und Bongs aus Glas. Und zum Rollen der Joints gibt's sogar Blättchen mit Zuckerwattegeschmack.

Ein wenig ironisch wirkt die Tatsache, dass sich die ganze Messe um Cannabis dreht, aber kaum ein Gramm Gras zu finden ist. Denn in der Provinz Ontario ist das Objekt der Begierde derzeit nur Online im „Ontario Cannabis Store“ erhältlich. Ein anderweitiger Verkauf ist noch bis April 2019 verboten.

Doch das hält niemanden ab, Geschäftsideen zu entwickeln. Cannabeds verspricht geruhsamen Schlaf auf Matratzen aus dem „Wundergewebe Hanf“. Das günstigste Modell ist auf der Messe für 549 Dollar zu haben – ein Preisnachlass von 500 Dollar. „Stärker und weicher als Baumwolle“, wirbt der Hersteller aus Toronto für seine Matratzen.

Der laut eigenen Angaben erste cannabisfreundliche Reiseveranstalter Kanadas Tour Buds ist mit einem seiner Busse bis in die Halle gefahren. Grasliebhaber können mit ihm zu Produzenten in Toronto fahren, während sie dabei Cannabis „vapen“. Wem nämlich Rauchen nicht passt, kann stattdessen Cannabis in flüssiger Form in einem Vaporizer verdampfen und inhalieren.

Unter einem meterhohen, aufblasbaren Pavillon mit weißen Sesseln bewirbt BudThink die – zumindest im Vergleich zum Rauchen – gesündere Alternative des Cannabiskonsums. „Stell dir eine Tupperparty vor, nur mit Vaporizern“, erklärt Mitarbeiterin Debbie das Prinzip des Unternehmens. „Es ist wie mit Schuhen: Jeder hat sein Lieblingspaar, aber um das zu finden, muss man ausprobieren.“ Ihren Nachnamen will sie nicht verraten; so ganz ist das Stigma der Droge selbst im liberalen Kanada nicht abgebaut.

Grenzenlose Möglichkeiten für Lebensmittel

Schier grenzenlose Möglichkeiten eröffnet Cannabis in Kombination mit Lebensmitteln. Essbare Produkte werden vermutlich im Oktober 2019 legal verkauft werden dürfen, schätzen Experten. Das schließt aber nicht aus, selbst etwas mit Cannabiswirkstoffen zu versetzen. Drei Köche aus Toronto haben der Wissenschaft der sogenannten Edibles (Esswaren) in Anlehnung an die chemische Bezeichnung des Wirkstoffs THC ihre Firma namens Delta9Chefs gewidmet.

„Wir können fast jede Art von Fett anreichern“, sagt Koch Matt Hawkins. „Vor allem ältere Leute finden das gut. Sie wollen nicht rauchen, mögen vielleicht keine Brownies, aber einen schönen Salat.“ Das Motto, wenn es um Edibles geht: „Start low, go slow“ – fange mit einer geringen Dosis an und steigere dich langsam. Mit den Edibles könne der Konsument länger und stärker high werden, weil der Körper sie anders verarbeite als Rauch. „Theoretisch“, fügt Hawkins hinzu. Denn noch handelt es sich hier nicht um eine exakte Wissenschaft.

Weniger das High als vielmehr die gesundheitlichen Vorteile von Cannabis stehen bei Ellen Novack und Pat Crocker im Vordergrund. Ihr Buch „Healing Cannabis Edibles“ erschien pünktlich zur Legalisierung. Wie sie das entwickelt haben? „Mit einer medizinischen Lizenz“, erklärt Autorin Novack. „Ich habe die Recherche übernommen und Pat hat die Rezepte entwickelt.“

Das Zauberwort beim Kochen mit Cannabis laute: Decarboxylierung. Heißmachen versetze die Wirkstoffe in ihre aktive Form – sonst könne der Mensch sie nicht aufnehmen. Crockers Tipp: Das Ganze bei 115 Grad Celsius für anderthalb Stunden im Ofen schmoren lassen, bis das Cannabis die Farbe verändert – oder einfach den „Nova Lift“ kaufen, denn natürlich gibt es zum Decarboxylieren bereits ein Produkt.

„Ich benutze das Wort Cannabis aus schierem Respekt vor der Pflanze. Es ist eine Heilpflanze und so behandle ich sie“, sagt Crocker, die mehr als 20 Kochbücher verfasst hat. Die beiden Frauen hätten sich durch ihren Autorenverein getroffen, auf einem Seminar namens „Cannabis, die neue Tomate“, erzählt Novack. Von der medizinischen Wirksamkeit sei sie überzeugt, weil es ihrem epileptischen Sohn geholfen habe (mehr zur Gesundheit rechts).

Sorten für den Heimanbau

Wer sein eigenes Gras anbauen will, ist bei Back Room Grow richtig. Am Stand verteilt Paul Raymond High Fives und Infos zum Heimanbau an Besucher. Seine Empfehlung: „Coco Coir“, ein Boden aus Kokosfasern. Pauls 20-jähriger Sohn John hilft heute am Messestand mit.

„Wir sind seit vier Monaten dabei und fassen gerade Fuß“, sagt der charismatische Mann mit den weißen Haaren. „Und schon wird Cannabis von den Großen übernommen. Es fühlt sich fast an, als wären die Gesetze von Konzernen geschrieben worden.“

Die Goldgräberstimmung scheint hier zwar alle gepackt zu haben, aber wer den Anfangshype übersteht, bleibt abzuwarten. Jeff Ayotte, der Baustellenleiter von Wayland, erwartet, dass sich in einem Jahr die Spreu vom Weizen getrennt haben wird.

„Dass die Pflanze 2001 zu medizinischen Zwecken zugelassen wurde, war nicht der Fortschrittlichkeit der kanadischen Regierung zu verdanken“, weiß der Pharmaberater Michael Boivin. Vielmehr hätten Klagen von Bürgern den Prozess über die Jahre vorangetrieben. Doch nach der Einführung blieb es lange Zeit still um Cannabis: Die kanadische Gesundheitsbehörde Health Canada erlaubte nur wenigen Patienten mit bestimmten Symptomen Zugang zu getrockneten Blüten.

Eine Reihe von Gesetzesänderungen führte zwischen 2013 und 2016 zu großen Veränderungen: Lizenzierte Produzenten dürfen jetzt nicht nur getrocknete, sondern auch frische Cannabisblüten und vor allem Cannabisöl produzieren und verkaufen. Und Ärzte können Gras inzwischen gegen alles verschreiben. Die Gatekeeper-Funktion von Health Canada fiel weg und der Markt für medizinisches Cannabis war eröffnet.

Bürger klagen auf medizinisches Cannabis – mit Erfolg

In der Konsequenz verdoppelte sich die Zahl der registrierten Nutzer von medizinischem Cannabis von April 2017 bis Juni 2018 nahezu: von 174.000 auf 330.000. „Die Akzeptanz bei Patienten und Ärzten wächst“, sagt Boivin, der seit fast 20 Jahren Pharmaunternehmen berät. Kanada gehöre weltweit zu den Spitzenreitern beim Graskonsum.

Ebenfalls gut dabei ist der Nachbar im Süden – und das obwohl Cannabis in den USA auf Bundesebene immer noch als „Schedule I“ Droge eingestuft ist. Laut Definition sollen die Drogen in der schlimmsten Kategorie des fünfstufigen Systems großes Potenzial für Missbrauch und für ernste psychische und/oder körperliche Abhängigkeit bieten. Dass das wissenschaftlich nicht haltbar ist, ist bei den Bundesstaaten angekommen: Neun haben Cannabis vollständig legalisiert; viele andere erlauben es zu medizinischen Zwecken oder haben es entkriminalisiert, das heißt der Besitz und Konsum von wenigen Gramm sind straffrei. Im Juli war Vermont der erste Staat, in dem die Gesetzesänderung von der Regierung ausging, nicht von Bürgerinitiativen.

Der Widerspruch zwischen Bundes- und Staatsgesetzen sorgt für absonderliche Situationen: Arbeiten Banken mit Cannabisunternehmen zusammen, könnten sie wegen Geldwäsche verklagt werden. Die Branche ist deswegen momentan ein reines Bargeschäft.

2012 wurden Colorado und Washington als erste Staaten mit vollständiger Legalisierung zum Vorreiter. Washington hat im Jahr 2017 mit Steuern und Gebühren auf Gras 319 Millionen Dollar eingenommen, schreibt der Schatzmeister des Staats auf seiner Website. Die Hälfte davon sei in ein Programm geflossen, das Menschen ohne Krankenversicherung medizinische Behandlungen ermöglicht. Rund zehn Prozent seien an Suchtprogramme gegangen, ein kleiner Teil in die öffentliche Bildung und Forschung.

In Colorado ist der Cannabistourismus, der sich auf der Cannabis Living Expo in Toronto andeutet, schon zu einem eigenen Wirtschaftszweig geworden. Cannabisfreundliche Taxis, Malkurse und Bergsteigen für Grasliebhaber und Kochkurse mit Cannabis sind keine Seltenheit. Im Gegensatz zu Befürchtungen der Kritiker ist Colorado nicht von einer Welle der Kriminalität überzogen worden. Das belegt ein wenige Wochen alter staatlicher Bericht über die Auswirkungen der Legalisierung. Währenddessen diskutieren weitere 16 US-Staaten die Entkriminalisierung von Cannabis. Es scheint, der Siegeszug der Pflanze hat erst begonnen.

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