Mordfall in Viersen Landesjugendamt prüft Verletzung von Meldepflichten im Fall Greta

Düsseldorf/Viersen · Hätte der mutmaßliche Mord an dem Kita-Mädchens Greta verhindert werden können? Mehrere Kitas und die Staatsanwaltschaft haben wohl Meldepflichten an das Landesjugendamt zu früheren Vorfällen verletzt. Familienminister Stamp fordert Konsequenzen.

 Nach dem Tod einer Dreijährigen steht eine 25-jährige Betreuerin unter Mordverdacht.

Nach dem Tod einer Dreijährigen steht eine 25-jährige Betreuerin unter Mordverdacht.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Im Fall des mutmaßlich von einer Erzieherin (25) ermordeten Kita-Mädchens Greta (3) aus Viersen kommen immer mehr Versäumnisse ans Licht. In gleich drei Kitas, in denen die 25-jährige tatverdächtige Frau zuvor gearbeitet hatte, hat es Notfälle und Notarzteinsätze gegeben. Doch keiner der Träger habe dem Landesjugendamt die bei solchen Vorkommnissen üblichen Pflichtmeldungen geschickt, sagte der Leiter des LVR-Landesjugendamts, Lorenz Bahr, am Donnerstag in einer Sondersitzung des Familienausschusses im Landtag. Zuvor hatte bereits die Staatsanwaltschaft Kleve eingeräumt, bei vorangegangenen älteren Ermittlungen wegen Vortäuschens einer Straftat Erkenntnisse zur psychischen Verfassung der Kindergärtnerin nicht wie vorgeschrieben an das Jugendamt weitergeleitet zu haben.

Hätten die Meldungen dem Landesjugendamt vorgelegen, hätte es die Chance gegeben, regionale Zusammenhänge zu erkennen und auf die Fälle zu reagieren, sagte Bahr. Es werde nun geprüft, ob die Kita-Träger ihre Meldepflichten verletzt hätten. „Die Meldungen, die hier vorgesehen waren, sind nicht erfolgt.“ Die Häufung der Fälle wäre dem Landesjugendamt nach Worten Bahrs „wahrscheinlich aufgefallen“. Doch lediglich die Unfallkassen seien wegen der medizinischen Diagnosen informiert worden.

Allein in einer Einrichtung in Kempen, wo die verdächtige Frau von August 2018 bis Juli 2019 beschäftigt gewesen war, habe es in der Zeit vier Notarzteinsätze gegeben. Immer war dasselbe Kind betroffen, sagte Bahr. Inzwischen steht ein weiterer Verdacht im Raum, dass die 25-jährige Erzieherin für Verletzungen auch bei einem zweiten Kind in der Kita verantwortlich sein könnte. Das sagte eine Sprecherin der Polizei Mönchengladbach am Donnerstag. Dies werde zur Zeit ermittelt. In dem Fall habe das Kind „oberflächliche Verletzungen“ erlitten und keine Atemprobleme gehabt. Die Eltern des Kindes hätten sich bei der Polizei gemeldet.

Dem Landesjugendamt LVR, das die Betriebserlaubnisse für Kindergärten im Rheinland erteilt, müssen besondere Ereignisse, die das Kindeswohl gefährden könnten, angezeigt werden. Allein 2019 habe es beim Landesjugendamt 1467 solcher Meldungen gegeben, sagte Bahr. Sie reichten von Unfällen, Fehlverhalten, massiven Beschwerden bis zu übergriffigem Verhalten auch von Kindern. Melden könne jeder - ob Eltern, Freunde von Eltern oder die Träger.

Das Landesjugendamt sei aber keine Aufsichtsbehörde und dürfe nur anlassbezogen tätig werden, sagte Bahr. Eine regelmäßige Überprüfung von Kitas sei nicht vorgesehen. Die Personalauswahl sei zudem allein Sache der Arbeitgeber. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Prüfung von Arbeitszeugnissen existiere für Kita-Träger nicht. Wenn das Landesjugendamt mehr Aufsichtsbefugnisse über Kita-Träger bekommen sollte, müsse dafür das Gesetz geändert werden.

Die dreijährige Greta war am 21. April von einem Notarzt wegen Atemstillstands aus dem Kindergarten in Viersen ins Krankenhaus gebracht worden. Am 4. Mai starb das Kind dort. Rechtsmediziner fanden Spuren, die auf Gewalteinwirkung hindeuteten. Die tatverdächtige Erzieherin hatte wegen der Corona-Beschränkungen eigentlich im Homeoffice gearbeitet, war aber an ihrem vorletzten Arbeitstag zur Notbetreuung eingesetzt worden und mit dem Kind allein geblieben. Danach hatte sie laut Bahr Resturlaub genommen und hätte ab Anfang Mai einen Arbeitsvertrag in einer Kita in Geldern gehabt.

NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) forderte in der Sitzung die komplette Aufklärung des Todes des Mädchens und mehr Sensibilität der Behörden für Kindeswohlgefährdungen. „Es ist wohl das Grauenhafteste, was einer Familie widerfahren kann“, sagte Stamp. Nicht nur die Tat müsse „lückenlos und transparent“ aufgeklärt werden, sondern es müssten auch Defizite beim Erkennen von Kindeswohlgefährdungen aufgearbeitet werden. „Hier hat es erkennbar Versagen gegeben.“ Sein Ministerium werde in der nächsten Zeit zu Beginn jeder Ausschusssitzung über die aktuellen Erkenntnisse informieren.

Stamp warnte davor, die Qualität und Integrität der Erzieherinnen und Erzieher generell in Frage zu stellen. Tausende Erzieher leisteten jeden Tag eine „hochwertige und liebevolle Arbeit“. Er sprach sich gegen Vorschläge einer Videoüberwachung in Kitas aus. Auch dürften Personalakten nicht von einem Arbeitgeber zum nächsten weitergeben werden. Meldeketten und Frühwarnsysteme hätten jedoch versagt, sagte die Grünen-Abgeordnete Josefine Paul.

Auch der Rechtsausschuss des Landtags wird sich kommende Woche umfassend mit den Kita-Vorfällen beschäftigen und hat Berichte vor allem der Staatsanwaltschaft Kleve angefordert. Diese hatte ihre früheren Erkenntnisse zum psychisch labilen Zustand der Tatverdächtigen nicht an das Landesjugendamt weitergeleitet. „Aus meiner Sicht handelt es sich hier um einen Fehler im Einzelfall“, sagte Ministerialdirigent Christian Burr in der Sitzung. Die Disziplinaraufsicht liege bei der Oberstaatsanwaltschaft - diese habe es aber bei einer Ermahnung belassen.

(dpa)
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