Radwegnetz wird ausgebaut Paris wird langsam zur Fahrradhauptstadt

Paris · In der französischen Hauptstadt wird das Netz der Radwege konsequent ausgebaut. Doch das Radfahren in einer Millionenstadt kann an den Nerven zerren.

 Radfahrer fahren auf dem Rundkurs im Bois de Boulogne in Paris.

Radfahrer fahren auf dem Rundkurs im Bois de Boulogne in Paris.

Foto: Knut Krohn

Radfahren in Paris könnte paradiesisch sein – aber es ist ein Paradies im Kriegszustand. Das Problem: in den Straßen und auf der wunderschönen Uferpromenade an der Seine bewegen sich keine Freunde, sondern nur Feinde – und die lauern überall. Autos gehören natürlich zu den Gegnern oder Lieferwagen, die beim Entladen die Radwege rücksichtslos zuparken. Unachtsame Fußgänger sind ein Graus, vor allem jene Touristen, die in Gruppen mit staunenden Augen absonderliche Bahnen ziehend durch die Stadt lustwandeln. Menschen auf Elektrorollern sind ebenso schwer kalkulierbar wie die anderen Radfahrer. Die meisten von ihnen sehen die Regeln der Straßenverkehrsordnung allenfalls als gutgemeinte Vorschläge, die je nach Situation auf sehr individuelle Art interpretiert werden können.

Verschärft wird die Misere dadurch, dass die meisten Einwohner von Paris erst vor kurzem das Radfahren für sich entdecken haben. Das heißt, das Geschick, sich auf zwei Rädern mit zügiger Geschwindigkeit in einer geraden Linie fortzubewegen ist bisweilen nicht sonderlich ausgeprägt. Meister der überraschenden Blockade sind allerdings die unzähligen Pizza-Boten auf ihren Drahteseln. Sie suchen meist verzweifelt eine Lieferadresse, die Augen konzentriert auf den Stadtplan in ihrem Smartphone geheftet.

Doch im verwirrenden Raduniversum der Millionenmetropole herrscht nicht nur Verdammnis, es gibt auch noch Anne Hidalgo, die Schutzheilige der Radfahrer in Paris. Seit Jahren treibt die Bürgermeisterin den Ausbau des Radwegenetzes in der Stadt voran. Allein seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden von ihr in Windeseile rund 50 Kilometer sogenannte Pop-up-Streifen ausgezeichnet. Faszinierend ist, mit welcher Verve die Politikerin ans Werk geht. Immer wieder entstehen ohne Vorwarnung über Nacht neue Wege, abgetrennt durch dicke, gelbe Linien. Das heizt natürlich die Wut der von unendlichen Staus genervten Autofahrer immer weiter an, da der Platz für die neuen Pisten sehr großzügig von den Fahrbahnen abgezwackt wird. Das ist eine eher abträgliche Gefühlslage für ein gedeihliches Nebeneinander im hektischen Straßenverkehr von Paris.

Pop-Up-Radwege könnten bestehen bleiben

In den Kreisen von Rad-Enthusiasten legendär ist die Geschichte, wie die Rue de Rivoli, eine der großen Achsen am Louvre vorbei, im Zuge der Corona-Maßnahmen von einem Tag auf den anderen für den Durchgangsverkehr gesperrt und zur Einbahnstraße gemacht wurde. Auf einer schmalen Spur fahren dort nun Busse und Taxis, der große Rest gehört den Radfahrern. Das prophezeite Verkehrschaos blieb aus, was den Eifer von Anne Hidalgo noch weiter anheizte. Die überzeugten Automobilisten fürchten nun, dass diese Pop-Up-Radwege auch nach dem Ende der Pandemie weiter bestehen bleiben – die Bürgermeisterin hat sich bereits sehr eindeutig in diese Richtung geäußert.

Den Umbau von Paris zur Radhauptstadt hat sie allerdings nicht nur aus Liebe zu den Vélo-Fahrern in Angriff genommen. Dahinter steht eine große Portion politisches Kalkül. Weit über die Hälfte der Einwohner von Paris besitzt kein Auto mehr, was die Bürgermeisterin dazu veranlasst, den Verkehr aus der Stadt zu drängen und die Lebensqualität ihrer potentiellen Wähler zu verbessern. Zu diesem Ziel zeichnet sie immer mehr Grünflächen aus, verhängt Tempolimits – und baut Radwege. Der Plan ist es, dass Paris in naher Zukunft von bis von 1400 Kilometern Radwegen durchzogen ist. Dafür wurden 150 Millionen Euro im Haushalt bereitgestellt. 2030 soll es mehr Räder als Autos in Paris geben.

Die Entwicklung von Paris zur Fahrradstadt ist allerdings eine zähe Geschichte. 1979 war der erste, einen Kilometer lange Vélo-Weg eröffnet worden – es war eine von den Autofahrern nachsichtig belächelte Sensation. Lange geschah danach nichts mehr. Nach mehreren schweren Unfällen von Radfahrern führte der damalige Bürgermeister Jacques Chirac 1982 dann sogenannte „Gänge der Höflichkeit“ ein - es handelte sich um auf den Asphalt gemalte Wege, um die sich der gemeine Autofahrer in der Regel allerdings wenig kümmerte. Im Volksmund hatten die Pisten sehr schnell einen anderen Namen: Todesstreifen. Ein zentrales Problem war, dass die Leute, die mit der Konzeption beauftragt waren selbst nicht Fahrrad fuhren und nur erahnen konnten, was einen sicheren Radweg ausmacht. Aber ein Anfang war gemacht.

Radnetz wurde erweitert

Auf massiven Druck von Umweltaktivisten wurde schließlich das sogenannte Radnetz von 4,3 Kilometer im Jahr 1995 bis 2001 auf 257 Kilometer erweitert, hinzu kamen eigene Busspuren, die auch von Fahrräder benutzt werden durften. Den endgültigen Durchbruch brachte dann aber Bertrand Delanoë. Der sozialistische Bürgermeister ließ ab 2001 die Straßenbahn ausbauen und schuf 200 Kilometer Radwege, die diesmal ihren Namen verdienten - sie waren mit Hindernissen von den Autospuren getrennt. Er war es auch, der eine gesamte Straße am Seine-Ufer sperren ließ und für Fußgänger und Radfahrer freigab. 2007 weihte Delanoë unter großem internationalem Medienrummel das „Vélib“-System mit den ersten 7000 Fahrrädern ein, die an bestimmten Stationen ausgeliehen und an anderen wieder eingeklinkt werden können. Zehn Jahre später betrug die Zahl der „Vélos en libre-service“ 25.000, heute gibt es 1100 Stationen mit jeweils über 40 Rädern.

Paris beherbergt aber auch eine Spezies von Radfahrern, die auf die Freizeitradler mit einer gewissen Geringschätzung herabschaut. Im Stadtverkehr sind sie nur selten zu finden, denn diese Gattung bewegt sich am liebsten in abgegrenzten Reservaten am Rand der Metropole. Eines dieser Biotope befindet sich rund um die Pferderennbahn Longchamp im Bois de Boulogne. Dort liegt ein breiter Rundkurs, etwa drei Kilometer lang, auf dem jeden Abend streng im Uhrzeigersinn Horden von Rennradfanatikern auf ihren High-Tech-Maschinen Jagd aufeinander machen.

Jeder kann sich diesem rasenden Freizeit-Peloton anschließen, sofern er eine ziemlich hohe Fitness, einiges fahrerisches Geschick und Nerven wie Drahtseile besitzt, denn hier hat der Spaß ein Ende. Auf diesem Asphaltkurs herrscht das gnadenloses Gesetz des Stärkeren und die Fahrer tragen nicht nur das bunte Trikot, sondern auch den Killerinstinkt eines Tour-de-France-Teilnehmers in sich. Im dahinfliegenden Pulk wird aus den Augenwinkeln genau beobachtet, welcher Teilnehmer die ersten Anzeichen von Schwäche zeigt und das nächste Opfer einer Attacke sein könnte. Mit gezielten Zwischenspurts werden die gegnerischen Pedaleure dann mürbe gefahren. Wer auf diese Weise gedemütigt und mit vor Erschöpfung brennenden Oberschenkeln dem dahinrasenden Pulk nicht mehr folgen kann, wird achtlos aus dem Peloton gespuckt.

Bisweilen verirren sich einzelne dieser Wettkampf-Radler auf dem Heimweg in den normalen Pariser Straßenverkehr. Aber auch dort legen sie ihren Killerinstinkt nicht ab, sondern stürzen sich vor jedem Kreisverkehr mit Todesverachtung und abstrus hoher Geschwindigkeit in die hupende Blechlawine. Sind sie am anderen Ende des vielspurigen Rond-Point-Infernos dem eigentlich unvermeidlichen Tode entkommen, haben diese Pedaleure ihren nächsten kleinen Sieg davongetragen. Dann rasen sie weiter, den Kopf tief über den Lenker gebeugt, mitten auf den breiten Boulevards ihrem Ziel entgegen, unbeirrt und in der sicheren Gewissheit: Die Verrückten sind immer die anderen.

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