Virologe Hendrik Streeck bei Maybrit Illner „Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben“

Düsseldorf · Sind die Deutschen lange genug zu Hause geblieben? Maybrit Illner hat eine interessante Runde eingeladen. Nur ein Gast warnt: Ein falscher Schritt könnte alles wieder kaputt machen.

 Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sagte im ZDF: „Wir haben alle einen Crashkurs in Hygiene gemacht“

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sagte im ZDF: „Wir haben alle einen Crashkurs in Hygiene gemacht“

Foto: dpa/Federico Gambarini

Sollte wir weiter stillhalten oder langsam lockern? Maybrit Illner will herausfinden, wie ernst die Gefahr eines Rückschlags angesichts der ersten gelockerten Corona-Maßnahmen ist. Irgendwann bringt sie das Paradoxe an der derzeitigen Situation auf den Punkt: “Ist die Lage so bedrohlich, weil immer mehr Menschen glauben, dass sie nicht mehr so bedrohlich ist?”

Darum ging’s

Die ersten Lockerungen sind beschlossen, doch nicht nur Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mahnt zur Vorsicht. Maybrit Illner fragt am Abend im ZDF ihre Gäste: Könnte Deutschland mehr wagen? Sind wir nur mutig oder schon riskant?

Die Gäste

  • Cem Özdemir, Bundestagsabgeordneter Bündnis 90/Grüne
  • Hendrik Streeck, Professor für Virologie der Universität Bonn
  • Malu Dreyer, SPD, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz
  • Herbert Diess, Vorstandsvorsitzender Volkswagen AG
  • Mai Thi Nguyen-Kim, Wissenschaftsjournalistin

Der Talkverlauf

Malu Dreyer verteidigt zum Auftakt die Öffnung eines Outlet-Centers in Zweibrücken: „Wir setzen die Beschlüsse genau um, die wir gemeinsam miteinander besprochen haben“, sagt die rheinland-pfälzische Regierungschefin. Sie habe mit größtem Verantwortungsbewußtsein gehandelt.

Das gleiche bescheinigt Herbert Diess sich und seiner Branche. “Wir haben uns sehr gut vorbereitet auf den Übergang”, sagt der VW-Chef, dessen Werke allmählich wieder hochfahren. Man habe gut noch zwei, drei Wochen durchhalten können, aber in seinen Augen sei wichtig, dass die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werde. “Denn beliebig lange können wir das nicht durchhalten.”

Genau diese paar Wochen Lockdown würde Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim den Deutschen gerne noch verordnen. “Wenn wir jetzt die Beschränkungen noch ein paar Wochen durchhalten könnten, und die Fallzahlen noch weiter senken könnten, dann verschaffen wir uns damit Freiheiten bis zum Ende der Epidemie”, sagt sie. Denn die dauere ja “leider noch ein Jahr oder länger.”

Diese Freiheiten gingen allerdings verloren, wenn man jetzt zu früh locker lasse. “Das ist wie wenn man einem Kind ein Marshmallow verspricht, wenn es sofort eins haben will, oder zwei wenn es 15 Minuten warten kann”, sagt sie und fügt hinzu: “Ich hoffe, wir können 15 Minuten warten.” Wer denke, jetzt bewege sich alles graduell Richtung Normalität, riskiere “immer wieder neue Ausbrüche” und neue Lockdowns. “Wir sind erst am Anfang und sehen: der aktuelle Lockdown bringt uns schon an unsere Grenzen”, klagt sie. Gebe es später im Jahr weitere Ausbrüche, würden die Schäden viel größer sein, auch für die Wirtschaft.

Virologe Hendrik Streeck, der mit einem 70-köpfige Team den Ausbruch und den Verlauf der Covid-19-Pandemie im Kreis Heinsberg untersucht, sieht das anders.“Natürlich kann es sein, dass wir eine zweite oder dritte Infektionswelle haben”, so der Bonner Professor. Er gehe allerdings nicht davon aus, es sei denn, sämtliche Maßnahmen würden ganz heruntergefahren.

Streeck erinnert auch an die Fortschritte: Weder habe es eine Todeswelle über Ostern gegeben, noch seien die Kapazitäten der Krankenhäuser überschritten worden. “Und wir haben alle einen Crashkurs in Hygiene gemacht”, sagt er, was höchst sinnvoll sei, denn er empfiehlt: “Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben.”

Es kenne keine Grenzen oder Stoppschilder. “Wir werden damit leben müssen, wie wir mit allen anderen hier endemischen Coronaviren leben, die immer wieder im Winter Probleme machen.” Er hält es für einen “Aberglauben zu glauben, dass man in Deutschland eine Grenze zieht” und was in Belgien oder Österreich passiere, nicht über die Grenze gelange.“ Unsere „noch unwissenden Immunsysteme“ müssten vielmehr den Umgang damit lernen.

Cem Özdemir, der selbst an einer milden Form von Covid-19 erkrankt war, ist für Vorsicht und gegen pauschale Entscheidungen. Zugleich erinnert der Grünen-Abgeordnete daran, dass der “Leidensdruck bei Menschen, die kein Polster haben” größer ist. “Was wir erreicht haben, haben wir unter großen Opfern gemeinsam erreicht, das darf man jetzt nicht gefährden”, findet er, insofern habe die Kanzlerin recht mit ihrer Mahnung, keine unnötigen Risiken einzugehen.

Wichtig sei, dass alle mit größtmöglicher Vorsicht ans Werk gingen. Politikern, denen alles nicht schnell genug gehe, empfiehlt er, sie könnten “ja mal ihr Mütchen kühlen” und einen Wettbewerb starten, wer die saubersten Schulen schaffen könne. Die „Vorturner da vorne“, kritisiert er nicht genannte Politiker-Kollegen , dürften nicht den Eindruck erwecken, alles sei nicht so schlimm. Dann könne in der Bevölkerunge zu Leichtsinnigkeit führen. Vor allem für Kinder aus benachteiligten Familien sei aber wichtig, Schritt für Schritt weiterzugehen und den Alltag behutsam zu öffnen.

Dieser Text ist zuerst bei RP-Online erschienen.

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