Absturz in der Ukraine Viele Fragen nach Abschuss von Flug MH 17 offen

Moskau · Auch fünf Jahre nach dem Abschuss der Boeing 777 der Malaysia Airlines sind noch viele Fragen offen. Bei dem Unglück starben alle 298 Insassen.

 Alle Insassen des Fluges MH 17 starben beim Abschuss der Boeing 777.

Alle Insassen des Fluges MH 17 starben beim Abschuss der Boeing 777.

Foto: dpa

Wladimir Zemach ist ein Mann einfacher Worte: „Er hat die ,Suschka‘ kaputtgemacht, aber eine zweite ,Suschka‘ hat die Boeing abgeschossen“, erzählte Zemach 2015 einem russischen Videoamateur. Mit „Suschka“ meinte Zemach, damals Kommandeur der Rebellenluftabwehr in der Stadt Snischnje, einen ukrainischen Suchoi-Kampfjet, mit Boeing das malaysische Passagierflugzeug mit der Kennung MH 17, das an diesem Mittwoch vor fünf Jahren über Snischnje abgeschossen wurde. Alle 298 Insassen starben. Mit „er“ aber ist das Buk-Raketensystem gemeint, das laut der internationalen Ermittlergruppe JIT die Rakete abfeuerte und aus Russland kam – und das nach russischen Beteuerungen nie dort gewesen ist.

Die Aussagen des Sportlehrers Zemach könnten trotz seiner Fehleinschätzung von 2015 für die JIT-Fahnder interessant werden. Denn der frühere Berufsoffizier wurde Anfang Juli von ukrainischen Geheimdienstlern aus seiner Wohnung in Snischje entführt, sitzt jetzt in Kiew in Untersuchungshaft. Als Frontkämpfer und Flakchef von Snischnje hatte er auch nach 2015 Kontakte und Einsichten, die die Tragödie vom 17. Juli 2014 weiter aufklären könnten.

Es gibt massenhaft Fotos, Videos, abgehörte Telefonate von Rebellenoffizieren und russischen Entscheidungsträgern, die nach Einschätzung der JIT beweisen, dass ein Buk-System der 53. russischen Flugabwehrbrigade die Boeing vernichtete. Russland leugnet vehement, machte erst ukrainische Kampfflieger, dann eine ukrainische Buk-Rakete für den Abschuss verantwortlich. „Es gibt keinerlei Beweise“, dementierte Wladimir Putin noch vor wenigen Wochen.

Trotzdem wollen die Niederlande ein Gerichtsverfahren eröffnen, die erste Sitzung soll im März 2020 stattfinden. Bisher hat die Staatsanwaltschaft vier Tatverdächtige genannt, drei Russen und einen Ukrainer, die 2014 als Rebellenkommandeure im Donbas kämpften. Der berühmteste ist Igor Strelkow alias Girkin, ein russischer Exgeheimdienstler, der als „Verteidigungsminister“ das Oberkommando über die Rebellen hatte. Die ukrainische Staatsanwaltschaft veröffentlichte den Mittschnitt mehrerer Telefonate Strelkows von Anfang Juni 2014, unter anderem mit dem Chef der Krim, Sergei Aksjonow. Darin forderte er angesichts des Vormarschs der ukrainischen Streitkräfte unter anderem „normale Luftabwehrwaffen“. Außer ihm werden der russische Militärgeheimdienstler Sergei Dubinski genannt, der den Sicherheitsdienst der Rebellen kommandierte und laut JIT den Transport der Buk nach Snischnje koordinierte. Zwei weitere Tatverdächtige, Dubinskis russischer Stellvertreter Oleg Pulatow und dessen ukrainischer Untergebener Leonid Chartschenko, sollen den Transport des Buk-Systems begleitet haben.

Wer gab den Abschussbefehl?

Aber keiner der vier dürfte den Einsatz des Buk-Systems auf dem ostukrainischen Schlachtfeld befohlen haben. „Und wer das russische Befehlssystem kennt, der weiß, dass dieser Befehl eine höhere Instanz erteilt hat als das Kommando einer Flakbrigade oder auch der russischen Luftstreitkräfte“, sagt der Kiewer Militärexperte Oleksi Melnyk. Im Beweismaterial der JIT befindet sich das Telefonat eines anderen Rebellenchefs mit dem russischen Präsidentenberater Wladislaw Surkow, der sagt, die „allerhöchsten für die Kriegsgeschichte zuständigen Genossen“ versprächen baldige Kriegshilfe.

Viele Beobachter vermuten, der Abschuss selbst sei vom Kommandeur der Bedienungsmannschaft des Buk-Systems beschlossen worden. Aber auch, weil ihm das Zielerkennungssystem fehlte, mit dem er die Boeing als Zivilmaschine hätte identifizieren können. Die „allerhöchsten Genossen“ hätten aus Geheimhaltungsgründen darauf verzichtet, solche Buk-Zusatzkomponenten mitzuliefern.

Melnyk befürchtet, die JIT-Ermittlungen würden immer stärker von der Politik gebremst. „Der Versuch, eine Hierarchie verantwortlicher Rebellen mit Strelkow an der Spitze aufzubauen, wirkt, als solle von Putin abgelenkt werden.“ Offenbar hätten die Niederlande und der Westen aus Angst vor dem Zorn des Russen, vielleicht auch aus wirtschaftlichen Interessen, von ihren eigenen Rechtsprinzipien Abstand genommen. In der Ukraine hofft man jetzt, dass die Aussagen des U-Häftlings Zemachs dem Verfahren neuen Schwung geben könnten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort