Wohnen auf wenigen Quadratmetern Warum Tiny Houses die Zukunft sein könnten

Hamm · Kompakt, gemütlich, preiswert und in Teilen auch nachhaltig: Tiny Houses liegen im Trend. Sie bieten Wohnraum auf wenigen Quadratmetern, selbst Tchibo hat sie seit einigen Jahren im Angebot. Was steckt dahinter?

  Heimelig und aus Holz  auf 15 bis 30 Quadratmetern: Blick ins Innenleben eines Minihauses.

Heimelig und aus Holz auf 15 bis 30 Quadratmetern: Blick ins Innenleben eines Minihauses.

Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel

Etwas ab vom Schuss liegt sie, die Firma „Tiny House Diekmann“, das verrät schon der Name der nächstgelegenen Regionalzughaltestelle: Bahnhof Hamm-Bockum-Hövel. Tiefe westfälische Provinz. Tiny House Diekmann ist eine Firma, die es eigentlich nicht gibt. Und was sie produziert, Tiny Houses – Minihäuser –, gibt es hierzulande im Grunde auch noch nicht, zumindest was eine verbindliche Definition angeht. Beides zeigt: Da muss etwas ziemlich schnell gegangen sein.

Tiny House: Darauf, was das ist, weiß das deutsche Baurecht keine Antwort. Meist versteht man darunter ein voll ausgestattetes Haus mit einer Grundfläche von etwa 15 bis 30 Quadratmetern, das auf einen Anhänger gebaut ist. Damit versucht das Tiny House, zwei Bedürfnisse zugleich zu befriedigen: das Zuhausesein und das Unterwegssein. Eine mobile Immobilie.

Tiny House Diekmann: Hinter dem trendigen Namen steckt eigentlich die Schreinerei Heinz Diekmann GmbH, 1949 gegründet, Familienbetrieb in dritter Generation. Die Werkhalle ist vollgestellt mit Minihäusern. Aus allen Ecken: Hämmern, Klopfen, Sägen. „Neun Tiny Houses werden gerade parallel gebaut“, erklärt Mitarbeiterin Vera Lindenbauer. „Damit sind alle Fertigungsplätze belegt.“

Im Jahr 2018 gab es die erste Tiny-House-Messe in Deutschland

2015 übernahm Stefan Diekmann, damals 29, den elterlichen Betrieb. Bis dahin bestand das Kerngeschäft aus Fenstern, Türen, Wintergärten. Im selben Jahr, die Idee hatte er von einem Aufenthalt in Kanada mitgebracht, fertigte er einen Tiny-House-Prototyp. Mit Wänden aus Plastik, damit er nicht zu schwer wird für die Straße, dreieinhalb Tonnen sind das Maximum. Wurde trotzdem zu schwer. „Aber gut“, sagt Diekmann, „das gehört dazu.“

Anfang 2016 verkaufte Diekmann sein erstes Minihaus. Es war aus Holz – wie alle, die folgten. Damit war er einer der ersten Anbieter in Deutschland. 2018, als in Karlsruhe die erste Tiny-House-Messe stattfand, zählten die Veranstalter 25 Anbieter. Im selben Jahr nahm Tchibo Tiny Houses ins Angebot auf. Ein „super Marketing-Effekt“, sagt Lindenbauer. „Das hat die Häuser bundesweit aufs Radar gebracht.“

Im Oktober 2019 wurde der Tiny-House-Verband gegründet. Die Vorsitzende des Verbandes, Regina Schleyer, schätzt die Zahl der gewerblichen Tiny-Häuslebauer inzwischen auf mehr als 60. Diekmann ist der größte von ihnen. 40 bis 60 Häuser bauen sie hier inzwischen pro Jahr. „Weiter wachsen können wir eigentlich nicht“, sagt Lindenbauer. Im Jahr vier nach dem ersten verkauften Tiny House umfasst die Minihausproduktion rund drei Viertel des Umsatzes. „Wintergärten waren lange unser Kerngeschäft“, sagt Diekmann. „Und das, was wir jetzt machen, sind im Prinzip Wintergärten auf Rädern.“ Er meint: beides Holzständerwerke. „Die Kompetenz dafür war da, die Maschinen, die Halle. Das hat gepasst.“ Und so hat sich die Schreinerei Diekmann mal schnell eine neue Geschäftsgrundlage gezimmert.

Wäre ja schön, aus Umwelt- und Naturschutzsicht, wenn der Tiny-House-Trend ein Vorbote für Wohnraumverkleinerung wäre. Weniger Flächenfraß, geringerer Energieverbrauch. Auch der überhitzte deutsche Miet- und Immobilienmarkt könnte damit etwas abkühlen. Denn zu den Ursachen dieser Anspannung zählen nicht nur Faktoren wie Niedrigzinspolitik oder die missbräuchliche Vermietung von Wohnungen als Ferienappartments. Vor allem beanspruchen wir immer mehr Wohnfläche pro Kopf. 1991 waren es noch etwa 35 Quadratmeter, heute sind es knapp 47 Quadratmeter – eine Zunahme um fast 35 Prozent.

Mit Tiny Houses kann man problemlos den Wohnort wechseln

Ein Grund ist die wachsende Zahl von Haushalten. Hierzu „tragen Singularisierung und Individualisierung wie die spätere Ehe- und Familiengründung bei jungen Menschen bei“, so der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) in seiner Stellungnahme zum Wohnungsneubau. Der SRU erwartet die Fortsetzung dieser Trends für die nächsten 20 Jahre.

Für eine singularisierte, individualisierte Wohnwelt sind Tiny Houses wie gemacht. Man kann damit, theoretisch, beispiellos bequem seinen Wohnort wechseln. Neuer Job? Neue Liebe? Kein Problem. Diese Flexibilität ist einer der wichtigsten Beweggründe für den Kauf eines mobilen Minihauses. Ein weiterer sei der Preis, erklärt Vera Lindenbauer. „Ob ich für 500 000 Euro ein Einfamilienhaus kaufe oder ein Tiny House für 60 000 Euro – das sind Welten.“

„Minimalismus ist eine Entwicklung, die immer mehr Menschen überzeugt“

Die Vorsitzende des Tiny-House-Verbandes Regina Schleyer glaubt, dass das Kleinheim-Konzept auch für sich genommen verfängt, unabhängig von der damit einhergehenden Ersparnis: „Der Minimalismus ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die immer mehr Menschen überzeugt.“ Tiny Houses könnten in einer Überflussgesellschaft geradezu als Erholungsbereiche dienen, so Schleyer: „Es ist einfach schön, auf so einem begrenzten Platz alles vorzufinden. Wenn Tiny Houses intelligent montiert sind, sind sie wahre Raumwunder.“

Und natürlich spricht auch eine Reihe ökologischer Gründe für die Minihäuser. Etwa, dass für sie keine Flächen versiegelt werden müssen. Oder auch, wie Schleyer sagt: „Letztendlich weniger Energieverbrauch, da weniger Fläche.“ Die US-amerikanische Umweltplanerin Maria Saxton hat untersucht, um wie viel sich der ökologische Fußabdruck durch den Umzug in ein Tiny House verkleinert. Für ihre Doktorarbeit hat sie mit 80 „Downsizern“ gesprochen, die seit mindestens einem Jahr in einem Minihaus leben. Im Durchschnitt war deren Fußabdruck um 45 Prozent geschrumpft. Darüber hinaus strahlte die neue Wohnsituation offenbar auf viele Bereiche aus. Die Menschen ernährten sich umweltbewusster und reduzierten ihren Plastikverbrauch.

  In der Schreinerei  von Stefan Diekmann in Bockum-Hövel werden seit 2015 Tiny Houses gebaut – ein neues Kerngeschäft.

In der Schreinerei von Stefan Diekmann in Bockum-Hövel werden seit 2015 Tiny Houses gebaut – ein neues Kerngeschäft.

Foto: Frank Schultze/Zeitenspiegel

Wer allerdings davon träumt, in ein Tiny House zu ziehen und ein einfacheres Leben zu beginnen, wird bald feststellen, dass das in Deutschland gar nicht so einfach ist. Anders als in den USA, dem Ursprungsland der Tiny Houses, sorgen die Kleinhäuser bei deutschen Behörden noch für große Ratlosigkeit. „Gemeinden wissen meist nicht, wie sie die beurteilen sollen“, so Schleyer. Klar ist: Als mobile Immobilien gilt für Kleinheime auf Rädern sowohl das Straßenverkehrs- als auch das Baurecht. Das macht es kompliziert. „Das Thema Tiny Houses ist generell mit viel Recherche verbunden“, sagt Michael Stachurski, der auf www.tiny-house- helden.de eine der übersichtlichsten Infosammlungen zum Thema zusammengetragen hat.

Was die Mobilität der Minihäuser angeht, kommt es neben ihrem Gewicht (bei mehr als 3,5 Tonnen braucht man einen Lkw-Führerschein) auch auf die Maße an. „Um sie ohne Sondergenehmigung auf der Straße zu transportieren, dürfen sie höchstens 2,55 Meter breit, vier Meter hoch und zwölf Meter lang sein“, erklärt Stachurski. Daneben braucht es ein zugelassenes Fahrzeug und den richtigen Führerschein – Klasse BE. Was Minihäuser als Immobilien angeht, kommt es darauf an, ob man darin nur ab und zu mal übernachtet oder sie als dauerhaften Wohnsitz nutzt.  „Letzteres ist mit deutlich mehr Hürden verbunden“, so Stachurski. Dann nämlich braucht man in der Regel ein erschlossenes Baugrundstück, das ans Strom-, Wasser- und Abwassernetz angeschlossen ist. „Mit einem Tiny House verbindet man ja oft Naturnähe. Aber die Wiese eines Bauern reicht als Stellplatz nicht – selbst wenn er das erlaubt.“

Anders sieht es auf einem Ex-Campingplatz im Fichtelgebirge aus, der 2017 zum ersten „Tiny House Village“ Deutschlands umgewidmet wurde. Dort, in Mehlmeisel, seien viele der bürokratischen Hürden entfallen, erklärt Stachurski: „Man pachtet einfach ein Grundstück und kann mit seinem Tiny House legal wohnen, es anmelden – alles total problemlos.“ Die oberfränkische Gemeinde, die sich in den Jahren zuvor schon ans Schrumpfen gewöhnt hatte, unterstützte das Pionierprojekt und trug dazu bei, es zum deutschen Tiny-House-Hauptstädtchen zu machen. Inzwischen stehen hier mehr als 20 Minihäuser.

Tiny Houses haben allerdings auch einige Haken

Anderswo haben Tiny-House- Fans mit Rechtsunsicherheit und Vorurteilen zu kämpfen. „Auch wenn die Häuser in ihrer Bauart mobil sind, haben diese nichts mit einem Campingwagen zu tun.“ Das stellt der Verein „Einfach gemeinsam leben“ mit Sitz im oberbayerischen Wolfratshausen klar. Der Plan des Vereinsvorsitzenden Thorsten Thane und seiner Mitstreiter: eine kleine Siedlung aus sieben Tiny Houses. „Eine generationenübergreifende, naturnahe Dorfgemeinschaft“, wie Thane es nennt.

Neben Akzeptanzproblemen und dem rechtlichen Nebel gibt es bei Tiny Houses einige weitere Haken, die ihren Nachhaltigkeitsvorteil etwas relativieren. Dazu gehört die Lebensdauer. Schwer vorstellbar, dass sie in Wind und Wetter viele Jahrzehnte überdauern. „Man muss schauen, wie das langfristig aussieht, da haben wir noch keine Erfahrungswerte“, sagt Schleyer. Zwar stehe einer langen Lebensdauer prinzipiell nichts entgegen: „Aber Holz, das wissen wir alle, muss regelmäßig gepflegt werden.“

Zudem sind Minihäuser auf Rädern, um Gewicht zu sparen und Raum zu gewinnen, in der Regel nicht sehr gut gedämmt. Das macht sie im Winter nicht gerade energieeffizient. „Von den verschiedenen Formen der Tiny-Häuser sind jene auf Rädern die unökologischsten“, ist Daria Kistner, Vorstandsmitglied von Transition Town Hannover, überzeugt. Wegen der dünnen Dämmung. Und weil sie von allen Seiten von kalter – oder im Sommer: heißer – Außenluft umgeben sind. Generell hält Kistner freistehende Minihäuser für ländliche Gebiete geeignet. In Städten ist ihr Platzbedarf ein weiterer Nachteil. Denn obwohl für sie  keine Flächen versiegelt werden, ist ihr Flächenverbrauch nicht zu verachten, wenn man sie mit mehrstöckigen Bauten vergleicht.

Auf Initiative von Transition Town entsteht derzeit am Stadtrand von Hannover auf knapp 50.000 Quadratmetern ein „Ecovillage“ für 900 Menschen. Die Genossenschaft, die das Projekt vorantreibt, plant Tiny Houses als Randbebauung eines Ökodorfes. Der Großteil der Neu-Bewohner soll in mehrstöckigen Gebäuden wohnen. In Kleinstwohnungen, in denen jedem Bewohner nur 25 bis 30 Quadratmeter Wohnraum zu Verfügung stehen – dazu kommen Gemeinschaftsräume, die man sich stockwerksweise teilt. Ein intelligenter Kompromiss findet Kistner: „In einer Großstadt kann man eigentlich nicht ein­geschossig bauen.“

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