Heute vor zehn Jahren Wie das Loveparade-Unglück das Leben von drei Frauen veränderte

Duisburg · Gabriele Müller verlor am 24. Juli 2010 ihren Sohn auf der Duisburger Loveparade. Besucherin Sarah Vogt war im Gedränge und leidet bis heute unter den Folgen. Nicole Ballhause arbeitete damals als Ordnerin und machte sich jahrelang schwere Vorwürfe. Drei Frauen, die das Unglück nicht loslässt.

 21 Holzkreuze sollen am Unglücksort an die Opfer der Loveparade-Katastrophe erinnern.

21 Holzkreuze sollen am Unglücksort an die Opfer der Loveparade-Katastrophe erinnern.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Seit Tagen freut sich Christian auf den 24. Juli. Der 25-Jährige will mit Freunden nach Duisburg fahren; dort auf der Loveparade feiern, tanzen, den Spaß seines Lebens haben. Es ist zunächst ein ganz normaler Samstagmorgen im Juli, die Sonne scheint. Dennoch ist es noch ein bisschen frisch draußen; seine Mutter rät ihm, einen Pullover über das T-Shirt zu ziehen. Doch das möchte Christian nicht; der Pulli würde ihn nur stören. Er hat es eilig. Gleich möchte er sich mit seinem Freund Damian treffen, mit dem er mit dem Zug von Hamm nach Duisburg fahren will. Seine Mutter geht schnell noch zum Bäcker und holt Brötchen, damit Christian wenigstens etwas isst. Um 9.30 Uhr zieht Christian los. Seine Mutter wünscht ihm einen schönen Tag, und sie bittet ihn, gut auf sich aufzupassen. Dann ist Christian weg. Er stirbt an diesem Tag auf der Loveparade.

„Mit dem, was dann kam, haben wir natürlich nicht gerechnet. Natürlich hat man sich Sorgen gemacht, wenn das eigene Kind das Haus verlässt. So wie es Eltern immer machen. Wir wussten aber gar nicht, dass das Veranstaltungsgelände ein eingezäuntes Trümmerfeld war. Das ganze Gelände war ja eine Katastrophe, das bestand aus grobem Schotter und Kratern, Metallteile lagen dort herum. Als sich mein Mann im Nachhinein das Areal angeschaut hat, war er erschüttert. Wie konnte man dieses Gelände nur freigeben für die Loveparade?“

Gabriele Müller, 62, Mutter von Christian, wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag der Katastrophe

Vor zehn Jahren, am 24. Juli 2010, starben auf der Duisburger Loveparade 21 Menschen; mehr als 650 wurden zum Teil schwer verletzt, manche leiden noch heute unter den Folgen. Der Strafprozess ging ohne Urteil zu Ende. Schuldige für die Katastrophe sind nie gefunden worden. Für Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, all die Angehörigen der Opfer, für all die Verletzten und Tausenden Teilnehmer, für ihre Freunde, Helfer, Ordner, Polizisten, Ärzte, Sanitäter, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, für viele von ihnen hört dieser entsetzliche Julitag im Sommer vor zehn Jahren bis heute nicht auf. Für Sarah Vogt ist es ein wiederkehrender Albtraum geblieben. Sie ist damals mitten im Gedränge, auf der Rampe, dem einzigen Zugang zum Gelände. Bis heute leidet sie unter den psychischen Folgen, hat eine posttraumatische Belastungsstörung. Beim Strafprozess ist sie Nebenklägerin gewesen.

„Im Tunnel wurde es immer enger. Und es stockte immer wieder. Man kam irgendwann nicht mehr nach vorne, nicht mehr nach hinten. Ich konnte nur noch meine Arme nach oben halten. Dann wurde man wie bei einer Welle nach vorne und zur Seite geschoben. Ich habe oben auf der Rampe fünf Polizisten gesehen, die nach unten zu uns geguckt haben. Von da an weiß ich nichts mehr.“

Sarah Vogt, Überlebende der Katastrophe

Bis heute hat Sarah Vogt keine Erinnerungen, was mit ihr genau passiert ist, nachdem sie die Polizisten oberhalb der Rampe gesehen hat. Sie sagt, dass sie am nächsten Morgen zuhause aufgewacht ist. Aber natürlich weiß sie, was in den Stunden davor und danach um sie herum passiert ist. Dass Polizei, Veranstalter und Stadt von Anfang an Probleme haben, Hundertausende Menschen durch die Stadt und auf das Gelände am Alten Güterbahnhof zu lenken. Dass es im Zugangsbereich am Nachmittag immer enger wird. Das Einsatztagebuch der Polizei vermerkt um 16.29 Uhr: „Der Druck auf das Veranstaltungsgelände wird zu groß.“ Und um 16.31 Uhr: „Aus dem Tunnel heraus wird das Gelände unkontrolliert gestürmt.“ Tausende Polizisten, Ordner und Sicherheitsleute, dazu monatelange Planungen – was sollte da schon passieren? Auch Gabriele Müller hat darauf vertraut, dass ihr Sohn in Duisburg in sicheren Händen ist.

„Ich habe mich darauf verlassen, dass mein Sohn dort sicher ist. Als ich Christian im Vorfeld fragte, ob er denn unbedingt dahin muss, hat er gesagt: Mama, was soll mir denn da passieren? Wir leben hier in Deutschland. Man kann immer ein blaues Auge bekommen oder sich das Bein brechen. Aber es kann nicht sein, dass auf einem Festival 21 junge Menschen sterben. Das kann nicht wahr sein. Und dann ist es keiner gewesen. Dazu sagen noch alle in ihren Fachbereichen, dass sie gut gearbeitet haben. Wenn das so gewesen wäre, warum ist dann das Unglück passiert?“

Gabriele Müller

Gedenken an das Loveparade-Unglück
11 Bilder

Gedenken an das Loveparade-Unglück

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Noch am Abend der Katastrophe erleben die Menschen, wie sich die Repräsentanten der Veranstaltung anschicken, vor der Verantwortung davonzulaufen. Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland – so wird er zumindest verstanden – macht sogar die Opfer selbst verantwortlich. Und die Repräsentanten des Systems unterschätzen die Macht der Bilder: Am nächsten Tag sitzen Wolfgang Rabe, der Leiter des Krisenstabes im Rathaus, Vize-Polizeichef Detlef von Schmeling, Veranstalter Rainer Schaller und Sauerland hinter einem Berg von Mikrofonen. Sie geben das Bild von Beschuldigten auf einer Anklagebank ab – angeklagt aber werden sie nie; stattdessen müssen sich Jahre später ihre Untergebenen vor Gericht verantworten.

„Den großen Bösewicht haben wir nicht gefunden. Es war eine Katastrophe ohne Bösewicht“, sagt der Vorsitzende Richter Mario Plein in der Einstellungsbegründung. Leute hätten Fehler gemacht, obwohl sie ihr Bestes gegeben hätten, ja sogar ihre eigenen Kinder zum Techno-Spektakel ließen. Die Frage, wie es zu dem Unglück kommen konnte, hatte im Prozess breiten Raum eingenommen. Auf der Grundlage eines 3800 Seiten umfassenden Gutachtens des Wuppertaler Verkehrssicherheitsexperten Jürgen Gerlach stellte das Gericht am Ende fest, dass eine „Vielzahl von Umständen“ zu dem tödlichen Gedränge geführt habe. So sei etwa der Veranstaltungsort für das Konzept und die Besuchermengen nicht geeignet gewesen. Vereinzelungsanlagen und Schleusen an den Eingängen seien nicht auf die erwartenden Personenmengen ausgerichtet gewesen.

Nicole Ballhause arbeitet damals an einer Vereinzelungsanlage; sie ist Ordnerin beim Sicherheitsdienst der Loveparade. Sie hat sich lange Vorwürfe gemacht, Menschen in den Tunnel geschickt zu haben; sie selbst erfährt damals von dem tödlichen Gedränge erst, als es schon zu spät ist – dabei steht sie kaum 100 Meter daneben. Wenige Tage vorm zehnten Jahrestag steht sie erneut an der Stelle, wo die Menschen um ihr Leben gerungen haben. Hinter ihr finden Abrissarbeiten an der alten Güterbahnhofshalle statt. Unsäglich sei das, findet sie. „Damit hätte man nach all den Jahren nun wirklich auch noch ein paar Tage bis nach dem Jahrestag warten können“, sagt sie.

„Die Menschen, die damals hier waren, müssen mit den Bildern im Kopf, dem ganzen Leid leben. Man kann es immer noch nicht fassen. Jetzt ist das alles schon zehn Jahre her. Und heute vor zehn Jahren war mein Leben und das der anderen Betroffenen noch in Ordnung.“

Nicole Ballhause, Ordnerin auf der Loveparade

Gabriele Müller fährt zum zehnten Jahrestag der Katastrophe nach Duisburg, um an den Gedenkveranstaltungen teilzunehmen. Besonders nah fühlt sie sich ihrem Sohn, wenn die offiziellen Programmpunkte beendet sind und Ruhe eingekehrt ist. „Spätabends ist es dort ganz still. Man hört nur noch das Zirpen der Grillen“, sagt sie. Dann käme sie endlich zur Ruhe. Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) erklärte im Vorfeld des Gedenkens: „Das Leid, welches dieser Tag über viele Menschen gebracht hat, kann auch die Zeit nicht relativieren.“ Er sehe aber, dass es inzwischen vielen gelinge, nach vorne zu schauen. Link will bei der öffentlichen Gedenkveranstaltung am Jahrestag sprechen. Erneut ist am Vorabend des Jahrestags im Zugangstunnel zum einstigen Veranstaltungsgelände eine „Nacht der 1000 Lichter“ geplant.

Am Abend des 24. Juli vor zehn Jahren klingelt es bei den Müllers in Hamm plötzlich an der Haustür. Es ist Christians Freund Damian. „Frau Müller, ich muss Ihnen etwas Schlimmes sagen. Der Christian ist tot.“

Dieser Text ist zuerst bei RP Online erschienen.

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