Der neue Corona-Brennpunkt Wirtschaftliche Not zwingt Lateinamerika trotz steigender Infektionszahlen zu lockern

Rio de Janeiro · Lateinamerika ist der neue Corona-Brennpunkt. Populistische Staatschefs, chronisch unterfinanzierte Gesundheitssysteme und tiefe Armut erschweren das Krisenmanagement. Trotzdem wollen einige Länder die Maßnahmen schon wieder lockern.

 Die Folgen der Corona-Pandemie sind für große Teile Lateinamerikas verheerend.

Die Folgen der Corona-Pandemie sind für große Teile Lateinamerikas verheerend.

Foto: dpa/Francisco Castillo

Während Europa erst einmal das Schlimmste hinter sich hat und langsam zu so etwas wie Normalität zurückkehrt, steuert die Corona-Pandemie in Lateinamerika auf einen Höhepunkt zu. Die Infektionszahlen steigen rasant. Das Gesundheitswesen ist am Limit. Die Wirtschaft liegt darnieder. Wie gehen die verschiedenen Staaten mit der Krise um?

Die Zahlen: Die Länder sind unterschiedlich stark betroffen. Spitzenreiter ist Brasilien mit fast 800.000 nachgewiesenen Infektionen und rund 40.000 Toten. In Peru haben sich offiziell mehr als 200.000 Menschen infiziert, in Chile etwa 150.000. Mexiko meldet rund 134.000 Infektionen und fast 16.000 Todesfälle. In Argentinien hingegen ist die Lage mit gut 25.000 Infektionen und rund 700 Todesfällen noch weitgehend unter Kontrolle. Mancherorts wird allerdings äußerst wenig getestet, so dass die tatsächlichen Infektionszahlen viel höher liegen dürften.

Die Maßnahmen: Die Regierungen haben ganz unterschiedlich auf die Pandemie reagiert. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro tut das Virus als „leichte Grippe“ ab. Er stemmt sich gegen jede Art von Schutzmaßnahmen. Einige Bundesstaaten und Städte haben zwar Ausgangssperren verhängt und die Schließung von Betrieben und Geschäften angeordnet. Aber es wird schon wieder gelockert. Vor Einkaufszentren in São Paulo bildeten sich lange Schlangen. Rio de Janeiro erinnert auch schon wieder an die Tage vor der Pandemie.

In Mexiko rief die Regierung nach langem Zögern die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben - Pflicht ist das aber nicht. Manche Industrien wurden als unerlässlich eingestuft, der Rest musste vorübergehend den Betrieb einstellen. In Lebensmittelgeschäften gilt Maskenpflicht, nicht aber in allen Behörden. Argentinien hingegen verhängte bereits Mitte März eine weitgehende Ausgangssperre, die zumindest im Großraum Buenos Aires noch bis heute gilt.

Die Bevölkerung: Die Akzeptanz der Maßnahmen hängt auch von der wirtschaftlichen Lage ab. In Peru gelten sehr strenge Ausgangsbeschränkungen, trotzdem verzeichnet der Andenstaat nach Brasilien die meisten Infektionen. Dort - wie auch in Mexiko und anderswo - sind viele Menschen im informellen Sektor beschäftigt. Schuhputzer, Müllsammler, fliegende Händler und Tagelöhner können es sich oft nicht leisten, zu Hause zu bleiben. In Brasilien waren trotz Ausgangssperren Märkte noch voll. Die Argentinier respektierten die Beschränkungen anfangs. Nach fast drei Monaten sind allerdings viele mit der Geduld am Ende.

Wirtschaftliche Folgen: Sie sind verheerend. Die Weltbank sagt für dieses Jahr einen Rückgang der Wirtschaftskraft um 7,2 Prozent voraus. Die Folgen der Rezession dürften in Lateinamerika dramatisch ausfallen, weil es kaum soziale Sicherungssysteme gibt. Die Organisation Aktion gegen den Hunger fürchtet, dass fast 30 Millionen Menschen in die Armut stürzen könnten. So lockern manche Länder - wie Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Honduras - aus wirtschaftlichen Gründen bereits ihre Maßnahmen, obwohl die Kurven weiter steigen. Einigen Ländern fehlt es an Geld, ihre Wirtschaft anzukurbeln.

In Mexiko - zweitgrößte Wirtschaft Lateinamerikas nach Brasilien - bleibt die Regierung bei ihrer Sparpolitik. Das ohnehin unterfinanzierte Gesundheitssystem ist an seinen Grenzen. Ärzte in Krankenhäusern müssen Schutzausrüstung selbst kaufen. Argentinien versucht, die größten Härten abzufedern. Neun Millionen Menschen, die arbeitslos sind, im informellen Sektor arbeiten oder nur sehr wenig verdienen, erhalten pro Monat 10.000 Peso (rund 130 Euro) Staatshilfe. Kleinunternehmern werden zinslose Kredite gewährt.

Die Präsidenten: Nicht alle werden ihrer Vorbildfunktion in der Pandemie gerecht. Während sich Argentiniens Staatschef Alberto Fernández als besonnener Krisenmanager gibt, schlägt der Brasiliens Präsident Bolsonaro alle Warnungen in den Wind. Er lässt sich von Anhängern feiern - Selfies ohne Maske inklusive. Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador behauptet entgegen der Statistiken seiner eigenen Regierung schon seit einem Monat, die Infektionskurve sei in Mexiko abgeflacht. Mit Mundschutz sieht man den Linkspopulisten nie.

Grenzen und Tourismus: In Lateinamerika sind die Grenzen weitgehend dicht. Auf dem Landweg dürfen lediglich Gütertransporte die Grenzen passieren. Auch Flüge sind in einigen Ländern noch möglich. Allerdings wollen erste Länder wie Kuba bereits bald ihre Grenzen wieder öffnen. Dahinter dürften handfeste wirtschaftliche Interessen stecken: In Mexiko, der Dominikanischen Republik und vielen anderen Karibikstaaten gehört der Tourismus zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen. Costa Rica und Kolumbien wollen im Ökotourismus Beschäftigte erst einmal in anderen, „grünen“ Jobs unterbringen.

(Von Denis Düttmann, Nick Kaiser und Martina Farmbauer, dpa)
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