Neues Buch zu 200 Jahren Kölner Karneval Zwischen Anarchie und Empathie

Köln · Kritischer Blick auf 200 Jahre Kölner Karneval: Das neue Buch von Monika Salchert ist weit mehr als eine Chronik – gestellt werden auch Fragen zu Rassismus, Antisemitismus oder der Rolle von Frauen.

 Ein Paar küsst sich auf der vollen Tanzfläche auf einer Karnevalssitzung in Köln um 1970.

Ein Paar küsst sich auf der vollen Tanzfläche auf einer Karnevalssitzung in Köln um 1970.

Foto: Oswald Kettenberger

Es gibt eine Menge Bücher über den Kölner Karneval, über Tradition, wirtschaftliche Bedeutung und psychologische Ausdeutung. Das neueste von ihnen geben nun die Roten Funken gemeinsam mit dem Festkomitee heraus – dass ausgerechnet dieses aus dem Rahmen selbstverliebter Brauchtümelei fällt, ist schon eine Überraschung. Und auch wieder nicht, denn geschrieben hat es die ausgewiesene Karnevalskennerin Monika Salchert, die seit vielen Jahren auch die großen Kölner Züge in WDR und ARD kommentiert und die bekannt für ihre offene, nicht selten kritische Art ist. Sie hat sich für das mit dem Greven Verlag umgesetzte Projekt absolute inhaltliche Freiheit garantieren lassen, und die ist auf den meisten der 248 Seiten zu spüren.

Das Buch „Kölner Karneval seit 1823“ erscheint aus Anlass des 200. Geburtstags des Festkomitees im kommenden Jahr und ist doch weitaus mehr als eine Chronik. Gleich zu Beginn beschreibt Monika Salchert ihre Sicht auf den Karneval als ein Fest, das Anarchie und Empathie verbindet, das niemanden ausschließt, und als eines, das der seelischen Gesundheit dient: „Es ist wichtig, eine Zeit zu haben, in der Pflichtbewusstsein, Normen und das eigene Gewissen etwas elastischer und durchlässiger sein dürfen.“

Eine Reise durch die Geschichte des Karnevals

Natürlich ist das Buch auch eine Reise durch die Geschichte des Kölner Karnevals, angefangen beim 1823 gegründeten „Festordnenden Comité“, das einen Maskenball und einen Maskenzug organisieren sollte, bis hin zu den rund 130 Organisationen, die inzwischen dem Festkomitee Kölner Karneval angehören. Die Roten Funken sind darunter eine der größten, und ihr Präsident Heinz-Günther Hunold scheint sich über den liebevoll kritischen Grundton zu freuen: „Selbstkritik ist das, was der Narr als allererstes braucht, bevor er über andere lacht“, sagte Hunold bei der Vorstellung des Buches.

Dass es an Bereitschaft zur Selbstkritik vielerorts durchaus noch mangelt, stellt die Autorin bei einer Reihe von Themen fest: Das Thema Nachhaltigkeit sei im Kölner Karneval noch gar nicht angekommen, schreibt sie mit Blick etwa auf Verpackungsmüll bei den Zügen. Und auch zu Rassismus, Antisemitismus oder der Rolle von Frauen stellt Salchert kritische Fragen. „Ich möchte erreichen, dass über diese Dinge nachgedacht wird, neu nachgedacht“, sagt sie.

Die Ausdehnung in den Sommer („Jeck im Sunnesching“) sieht sie als Verwässerung des Karnevals, den Umgang mit klassischen Büttenrednern in Sitzungen findet sie oft respektlos. Generell müsse das Motto „Weniger ist mehr“ lauten, zum Beispiel auch weniger Sitzungen, deren Profil die Veranstalter aber schärfen müssten, anstatt ein Programm wie im Warenhaus anzubieten – von allem etwas. Das Buch ist dennoch keine Abrechnung, sondern ein Versuch zu zeigen, wie der Kölner Karneval sich für die Zukunft aufstellen kann. Illustriert ist der Band mit Bildern von zehn Fotografinnen und Fotografen, darunter historische Aufnahmen bekannter Künstler und Chronisten wie Chargesheimer und August Sander, aber auch zeitgenössische wie die von Boris Becker, David Klammer und nicht zuletzt Nina Gschößl, die den Rosenmontag 2022, als sich der Kölner Karnevalszug in eine gigantische Friedensdemo und Solidaritätskundgebung mit der Ukraine verwandelt hatte, in eindrucksvollen Bildern dokumentiert. Das Buch löst damit ein, was das Titelbild von August Sander verspricht: Freiheit, Anarchie und Abweichung von der Norm als Kernsubstanzen des Karnevals, die erhalten bleiben müssen, oder nötigenfalls wiederbelebt.

Monika Salchert, „Kölner Karneval seit 1823“, Greven Verlag Köln, 248 Seiten, 36 Euro

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