SPD Angst vor einem negativen Mitgliederbescheid zur großen Koalition nimmt zu

BERLIN · Sicher ist gar nichts. "Ich bin total angespannt", sagte beispielsweise SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles am Wochenende. Der Grund für die politische Verkrampfung: Je näher der Zeitpunkt kommt, an dem die Koalitionsgespräche mit der CDU/CSU abgeschlossen sind, desto näher rückt die immer bedrohlicher werdende verbindliche Befragung der 470.000 Parteimitglieder.

 Mahnende Worte an die Genossen: Parteichef Gabriel auf Werbetour für die große Koalition.

Mahnende Worte an die Genossen: Parteichef Gabriel auf Werbetour für die große Koalition.

An der Basis ist die Stimmung gegenüber dem Plan "äußerst reserviert, um es vornehm auszudrücken", wie ein SPD-Mann aus der Umgebung des Parteichefs es formuliert. Nahles selbst zeigt in internen Runden durchaus Skepsis gegenüber dem Gelingen des innerparteilichen Plebiszits.

Auch Sigmar Gabriel weiß inzwischen genau, wie risikobeladen die Abstimmung der Genossen wird. Zwar gibt es keine offiziellen Umfragen zum möglichen Ausgang. Aber interne Berichte aus den Landesverbänden weisen auf eine immer schlechter werdende Stimmung gegenüber dem Regierungsprojekt hin. Der SPD-Chef startete am Wochenende in Bruchsal eine bundesweite Werbetour. Insgesamt zehn Bezirke will er abklappern, um für die Einigung zu werben.

"Es geht um das Schicksal der SPD in den nächsten 20, 30 Jahren", mahnte er seine Parteifreunde. Bei einer Ablehnung der Regierungsverantwortung drohe der SPD "das Ende als Volkspartei". Nirgendwo sei "der Selbsthass größer als bei der SPD". Das ist starker Tobak in den Ohren der Parteimitglieder. Forderungen nach einem Bündnis mit der Linkspartei auf Bundesebene weist der SPD-Chef kategorisch zurück: "Eine solche Regierung würde euch hier Hunderttausende Arbeitsplätze in der Industrie kosten."

Gabriel fährt also schweres Geschütz auf. Er weiß, dass die Repräsentanten wichtiger SPD-Arbeitsgemeinschaften das Projekt ablehnen. So die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und die Jungsozialisten. Auch von den sozialdemokratischen Frauen kommt kein eindeutig unterstützendes Signal. Stattdessen die Klage, dass die bisherigen Koalitionspläne zu wenig frauenpolitische Akzente gesetzt hätten. Gabriel weiß, dass es in den nächsten Tagen auch um seine politische Zukunft als SPD-Vorsitzender geht.

Mitten hinein in die sozialdemokratische Krise platzten am Wochenende die Meldungen, dass die hessischen Grünen die Einladung der Landes-CDU zu Koalitionsgesprächen annehmen. In der SPD wird vorsichtig darauf hingewiesen, dass damit "traditionelle Koalitionsbindungen" aufgelöst werden. Für die SPD gebe es daher keinen Grund, das Verhältnis zu der Linkspartei weiter zu tabuisieren. Der Leipziger Parteitag hat diese Lockerungs-Linie vorgegeben, "aber jetzt müssen wir auf die rasche Umsetzung auf Landesregierungsebene hinarbeiten", so die Lageeinschätzung in der SPD-Spitze.

Auf der Berliner Polit-Bühne ist diese Frage aber noch nicht virulent. Am Dienstag und Mittwoch werden die Emissäre in der großen Runde zusammentreffen. Die Einigung leidet absehbar unter Zeitdruck. Denn Angela Merkel, die am Wochenende die Erwartung äußerte, man könne am Mittwoch den fertigen Koalitionsvertrag der Öffentlichkeit präsentieren, muss am Donnerstag zu einem EU-Gipfel zur Partnerschaft mit dem Osten nach Vilnius/Lettland. Eine Verzögerung der endgültigen Entscheidung käme ihr nicht ungelegen, weil sie die Nervosität der Gegenseite noch steigern könnte. Die SPD treibt unverdrossen die Vorbereitungsarbeiten für die Mitgliederbefragung voran, die ins Geld geht: Etwa eine Million Euro lässt sich die Partei die direkte Demokratie kosten.

Auch Merkels CDU ist nicht frei von Unruhe. An der Spitze der Kritikbewegung stehen die Wirtschaftsverbände in der Partei. Der Präsident des Wirtschaftsrates, Kurt Lauk: "Dass das Schicksal unseres Landes in den Händen einiger 10.000 SPD-Mitglieder liegt, ist eine Perversion der Ergebnisse der Bundestagswahl."

Grass: Ich kann der SPD nur abraten

Seit Jahrzehnten ist Literaturnobelpreisträger Günter Grass ein Freund der Sozialdemokratie. Jetzt äußerte er sich in einem dpa-Interview zur großen Koalition: "Ich kann der SPD und ihren Mitgliedern nur raten, nicht in diese große Koalition zu gehen - aus mehreren Gründen. Eine Regierungskoalition aus den beiden größten Parteien ist so übermächtig, dass für die Opposition praktisch gar keine Chancen mehr bestehen. Das läuft für mich auf eine Beschädigung unseres demokratischen Systems hinaus. Grüne und Linke haben so kleine Fraktionen, dass sie noch nicht einmal einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss beantragen können. Das ist schon abträglich. Und zum anderen: Union und SPD verlieren in einer großen Koalition mehr oder weniger ihr politisches Gesicht, ohne dass etwas wegweisend Neues dabei herauskommt."

Grass plädiert stattdessen für eine CDU/CSU-Minderheitsregierung: " Es gibt viele Länder in Europa, Demokratien, in denen das, wenn Wahlen so ausgehen, durchaus funktioniert."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort