Regierungsbildung Auf dem Weg zur großen Koalition - Vor einer langen Nacht

BERLIN · Sie kommen gerade aus dem fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses. Die zurückliegenden gut fünf Stunden müssen frustrierend gewesen sein, geradezu trostlos. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles sieht aus, als müsste sie gleich eine Grabrede halten.

 Szenen und Themen der Koalitionsverhandlungen: Die Generalsekretäre Dobrindt (CSU), Nahles (SPD) und Gröhe (CDU) am 19. November vor der Presse.

Szenen und Themen der Koalitionsverhandlungen: Die Generalsekretäre Dobrindt (CSU), Nahles (SPD) und Gröhe (CDU) am 19. November vor der Presse.

Foto: dpa

Es ist Montag, 11. November, 17.47 Uhr. Soeben ist die vierte große Runde der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD zu Ende gegangen. Links und rechts von Nahles stehen die Generalsekretäre Hermann Gröhe (CDU) und Alexander Dobrindt (CSU). Gröhes Augen sind vor Müdigkeit rot unterlaufen.

Dobrindt macht von den Dreien noch den frischesten Eindruck. Das Problem: Die Generalsekretäre haben bislang wenig bis nichts zu verkünden, jedenfalls nichts Konkretes, weil viele der Kompromisse unter dem Vorbehalt stehen, dass sie auch bezahlt werden können.

Der Berg, der in diesem Fall eine Runde von 75 Spitzenpolitikern ist, kreißte und gebar auch an diesem Nachmittag einige Mäuse: Flüsterbremse bei der Bahn für mehr Lärmschutz, künftig mehr Bürgerbeteiligung bei der Festlegung von Flugrouten oder "Ausbaukorridore" bei den Erneuerbaren Energien, die die Überförderung etwa bei der Windkraft abbauen sollen. Für Betroffene und Branchen wichtig, aber nicht entscheidend für das Land.

So geht das Spiel jetzt schon seit sechs Wochen. Auch in den großen Runden danach verkünden Gröhe, Dobrindt und Nahles meist nur Allgemeinplätze. Der Eindruck entsteht: Es läuft extrem zäh. Bislang waren am Ende der großen Runden der 75 die Generalsekretäre gefragt, die meist dünnen Ergebnisse zu erklären, Zuversicht zu verbreiten, Streit zu überspielen und dies alles mit bildhafter Sprache zu beleben hatten.

Fachpolitiker von Union und SPD tagen in zwölf Arbeitsgruppen und in vier Unterarbeitsgruppen. Was die Herrschaften dort vereinbaren, kommt in die große Runde der 75, wo die gefundenen Kompromisse grundsätzlich gebilligt werden oder eben zurück in die Arbeitsgruppe gehen.

Wird es zäh, tagt, so wie gestern, die kleine Runde der 15: Parteichefs, Generalsekretäre, Partei-Vize. Die finale Runde muss vorbereitet und eine Basis für eine große Koalition geschaffen werden, die vier Jahre halten soll. Dabei sind die Positionen bekannt: "Eigentlich weiß auch jeder, wo wer auf wen Rücksicht nehmen muss", sagt beispielsweise SPD-Schatzmeisterin Barbara Hendricks vor dem großen Finale.

Wenn es heute ganz eng wird, gibt es noch die Runde der Parteichefs. In der Nacht zu Mittwoch werden sich Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD) zurückziehen und versuchen, mehrere Knoten aus unterschiedlichen Interessen zu lösen und die Fäden dann stimmig zusammenzuführen: Mindestlohn (will die SPD), Pkw-Maut (will die CSU), Homoehe (will die SPD), Doppelpass (will die SPD), Energiewende (wollen alle), keine neuen Schulden (wollen alle drei) und keine Steuererhöhungen (wollen CDU und CSU).

[kein Linktext vorhanden]Ob Nahles in diesen Tagen an die überlebensgroße Büste von SPD-Übervater Willy Brandt mit der richtungsweisenden und doch auch mahnend ausgestreckten Hand denkt? Tatsächlich ist es kein leichtes Spiel, auf das sich Union und SPD eingelassen haben. Kommt da wirklich noch zusammen, was mit aller Kraft zusammengebracht werden muss: eine große Koalition für Deutschland?

CSU-Chef Horst Seehofer jedenfalls machte gestern vor dem womöglich vorletzten Treffen vor einer Einigung Mut: "Ich bin überhaupt nicht besorgt. Wenn jetzt alle, die am Verhandlungstisch sitzen, Vernunft walten lassen, dann werden wir ein gutes Regierungsprogramm bekommen."

Und auch die potenziellen Koalitionäre von der SPD wollen an eine Einigung glauben. Angeblich hat ein erster Entwurf des Koalitionsvertrages bereits 177 Seiten. Er soll, so geht die Kunde um, deutlich reduziert werden. Es wäre auch im Interesse der SPD, die das Gesamtkunstwerk in einer Sonderausgabe des Parteiorgans "Vorwärts", das die Mitglieder bekommen, drucken will.

Auch SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil macht in Zuversicht, schließlich seien 90 Prozent der Themen bereits abgeräumt. Was er auch sagt: "Aber die harten zehn Prozent liegen noch vor uns." So spielen die Spitzen von CDU, CSU und SPD mit hohem Einsatz, den Entwurf unterschriftsreif und im Falle der SPD auch zustimmungsreif für den Mitgliederentscheid zu bekommen.

SPD-Chef Gabriel tingelt bei SPD-Regionalkonferenzen durch die Provinz und warnt vor der Unlust auf große Koalition, schließlich gehe es doch darum, was für die Menschen im Land erreicht werden könne. Und CDU-Chefin Merkel geht dafür beim Gewerkschaftstag der IG Metall an die Arbeiterfront. CSU-Generalsekretär Dobrindt schließt dabei allerdings nicht aus, dass Union und SPD womöglich in die Verlängerung müssen: "Man kann erst am Ende sagen, ob es funktioniert hat. Bis dahin ist alles offen."

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