World Trade Center 102 Minuten, die die Welt veränderten

New York · Was als normaler Dienstag begann, verwandelte sich in kurzer Zeit zum schwersten Terrorangriff auf die USA. 15 Jahre nach den Anschlägen von 9/11 treiben die Erinnerungen den Besuchern am Ort des Grauens noch Tränen in die Augen. Und der Kampf gegen den Terror geht weiter.

 Ein Turm des bei dem Terroranschlag von zwei Passagiermaschienen getroffenen World Trade Centers in New York stürzt ein und eine Wolke aus Staub, Rauch und Asche steigt in die Luft

Ein Turm des bei dem Terroranschlag von zwei Passagiermaschienen getroffenen World Trade Centers in New York stürzt ein und eine Wolke aus Staub, Rauch und Asche steigt in die Luft

Als George W. Bush am Morgen des 11. September 2001 eine Grundschule in Florida betritt, scheint es ein Tag wie jeder andere zu werden. Der US-Präsident will mit Schülern ein Kinderbuch lesen und für Bildung werben. Noch im Morgengrauen ist er an jenem Dienstag auf dem Golfplatz seines Hotels in Sarasota joggen gewesen, und auch beim täglichen Briefing zu Sicherheitsfragen haben seine Berater ihm nichts außergewöhnliches mitzuteilen gehabt.

Den Absturz eines Flugzeugs in den Nordturm des World Trade Center, von dem Bush kurz vor seinem Termin erfährt, hält er zunächst für einen tragischen, womöglich wetterbedingten Unfall. Er weist seine Mitarbeiter an, den New Yorkern alle Hilfe zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen. Dann, um 9.05 Uhr, tritt Stabschef Andrew Card im Klassenzimmer hinter den Präsidenten und flüstert: „Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen.“

Zu diesen Zeitpunkt sind Hunderte Menschen tot und zwei weitere Passagiermaschinen in der Kontrolle von Terroristen. An der Südspitze Manhattans regiert das Chaos. 102 Minuten vergehen vom Aufprall des ersten Flugzeugs bis zum Einsturz des zweiten Turms - es ist der schwerste Terrorangriff auf amerikanischen Boden aller Zeiten. Die Bilder des Grauens werden wieder über die Fernsehbildschirme wandern, wenn die USA an diesem Sonntag (11. September) der Anschläge von 9/11 gedenken.

Ein Ort der Erinnerungen

15 Jahre später ist fast jede Minute, jedes Detail, jede Anekdote von Opfern, Augenzeugen und Angehörigen rekonstruiert. Dokumentationen, Spielfilme, Sachbücher und Romane füllen Regale, die Zeitungsartikel mit Verweisen auf jenen Tag ganze Archive. Es gibt Theaterstücke, TV-Serien, Gedichte und Comics zu 9/11, es gibt Rock-Balladen und Rap-Texte und Kompositionen in klassischer Musik. Ein Gemälde des Malers Gerhard Richter namens „September“ zeigt die Silhouetten der eingestürzten Zwillingstürme. Sie sind grau verwischt.

Wer den seit dieser Zeit als Ground Zero bekannten Platz heute ohne Vorwissen besucht, ahnt zunächst nicht, welch tödliche Unterwelt sich hier aufgetan haben muss. Touristen knipsen lachend Selfies, Schüler necken sich, Familien ruhen im Schatten aus. Einige würden sogar die Rosen pflücken, die am Denkmal in den eingravierten Namen der Opfer stecken, bemerkt ein deutscher Besucher, der aus der Nähe von Frankfurt angereist ist. Nur manche halten inne und zollen dem Ort den Respekt, den er angesichts des Mordes Tausender verdient hätte.

Michael Mahn zum Beispiel, der an einem Montagmittag bei Sonnenschein im dunklen Anzug allein an einem der tiefen Wasserbecken steht und ins Leere blickt. „Es ist ein guter Ort“, sagt der 27-Jährige aus Long Island, der bald einen neuen Anwaltsjob in der Nähe beginnt. Dann will er öfter zum Lunch herkommen. Als die Türme einstürzten, besuchte er gerade den Sozialkunde-Unterricht in der siebten Klasse.

„Es war wirklich ein wunderschöner Tag“, erinnert sich Anthony Palmeri an die Momente, bevor die erste Explosion den Stadtteil Tribeca erschütterte und schwarze Rauchsäulen am Himmel aufstiegen. „Man konnte unendlich weit sehen.“ 23 Jahre war der gebürtige New Yorker an jenem Dienstag schon bei der freiwilligen Feuerwehr aktiv, als ihn der Notruf erreichte, der bis dahin undenkbar schien. Noch heute bricht seine Stimme, wenn er Besuchern von diesem Tag erzählt.

Erzählen über das Grauen

Palmeri, grauer Schnurrbart, freundliche Augen und Halbglatze, steht im Schatten eines Baumes an einem der Wasserbecken, die wie zwei Fußabdrücke die Grundrisse der einstigen Twin Towers markieren. Seit fast neun Jahren führt er Touristen an diesen Ort und erzählt von den Stunden des Schreckens, in denen 2977 Menschen starben.

Wie Opfer der Attacke in oberen Stockwerken aus Verzweiflung in den sicheren Tod sprangen. Wie es ganze zwölf Sekunden dauerte, bis einer der Türme komplett eingestürzt war. Wie Palmeri über Wochen half, 1,8 Millionen Tonnen Schutt und Stahl zu beseitigen. Wie 40 Prozent der Opfer überhaupt nicht identifiziert werden konnten. Wie die 102 Minuten Amerika und den Rest der Welt für immer veränderten.

„Es heilt mich. Es fühlt sich wie zu Hause an“, sagt Palmeri über seine kostenlosen Touren. „Es ist eines der besten Dinge, die ich je in meinem Leben getan habe.“ Immer wieder wischt er sich während seines Vortrags Tränen aus den Augen. Als er gegen Ende darum bittet, Freunden und Familien zu Hause nicht nur irgendein Foto zu zeigen, sondern die ganze Geschichte zu erzählen, weinen mehrere Besucher.

Sicherheitskonzept mit Mängeln

Wie unvorbereitet, verwundbar und machtlos die Vereinigten Staaten am Tag des 11. September 2001 waren, hat die 9/11-Kommission in einem 585 Seiten langen Bericht ausführlich herausgearbeitet. Weder Regierung und Militär noch Strafverfolger und Rettungskräfte hatten eine angemessene Antwort auf die Attacke. „Wir waren nicht bereit“, sagt David Fidler, Experte für Terrorismus, Massenvernichtungswaffen und Cybersicherheit beim New Yorker Council on Foreign Relations.

Und hinterher zu hinken scheinen die USA bis heute. Zwar wurde das Land von Angriffen dieses Maßstabs seitdem verschont, nachdem gegen das Terrornetzwerk Al-Kaida Krieg geführt und Osama Bin Laden getötet, nachdem Sicherheitskontrollen massiv verschärft und die Spionage des Geheimdienstes NSA massenhaft ausgeweitet wurden. Doch die weltweite terroristische Bedrohung habe sich in dieser Zeit längst weiterentwickelt, sagt Fidler.

Denn während in Washington lang die Ansicht herrschte, dass Terroristen sich bald um Cyber- und Massenvernichtungswaffen bemühen würden, hat der Islamische Staat (IS) über das Internet stattdessen ein globales Netzwerk radikalisierter Rekruten geschaffen. Nicht mit biologischen, chemischen, Atom- oder Cyber-Waffen führt der IS Krieg, sondern mit Anhängern einer radikalen Auslegung des Islam. „Wir haben unsere Strafverfolger, Geheimdienste und unser Militär voll darauf angesetzt, wie die Bedrohung durch Terrorismus Tochtergeschwülste bildet - und wir mühen uns immer noch ab“, sagt Fidler.

Raum zum Gedenken

Auch der Ausgang des inzwischen zweijährigen Kriegs gegen den IS, den Präsident Barack Obama von Syrien und dem Irak nun noch auf Libyen hat ausweiten lassen, ist offen. Nach mehr als 14 000 Luftschlägen des US-Bündnisses und Kosten von 8,4 Milliarden Dollar (7,5 Mrd Euro) für das US-Militär scheint es, als habe Obama sich wie sein Vorgänger Bush in einen langen, teuren Krieg ziehen lassen, den er im Januar auch an seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin abgeben dürfte.

Über diesen Krieg wird im Pentagon mitentschieden, wo an 9/11 ein Flugzeug mit 850 Stundenkilometern den Stahlbeton durchschlug. Heute haben Hinterbliebene der dort 184 Verstorbenen in einem Raum des Gedenkens Platz, an ihre Angehörigen, Freunde, Kollegen und Kameraden zu erinnern. „Vereint im Gedenken - 11. September 2001“, steht im bunt leuchtenden Bleiglasfenster der angrenzenden Kapelle. Es ist die einzige Kirche innerhalb eines US-Regierungsgebäudes.

Aber auch auf einem Acker mitten im Nichts des Bundesstaates Pennsylvania ist das Gedenken an die Anschläge bis heute lebendig. Dort stürzte der United-Airlines-Flug 93 ab, der auf dem Weg von Newark in New Jersey nach San Francisco war. Die Terroristen wollten die Maschine wohl ins Weiße Haus oder ins Capitol in Washington stürzen lassen, aber eine Revolte der Passagiere machte den Plan zunichte. Alle 44 Menschen an Bord des Flugzeugs kamen bei dem Absturz ums Leben - aber wie durch ein Wunder niemand auf dem Boden, obwohl in der Nähe die Ortschaft Shanksville liegt und auch die Metropole Pittsburgh nicht weit ist. Die 2011 eröffnete eindrückliche Gedenkstätte macht bis heute deutlich, wie verwundbar die USA selbst hier in ihrem Hinterland waren.

Ein ratloser US-Präsident

Vielleicht lässt sich die Verwundbarkeit der Supermacht USA an diesem Tag am besten im Gesicht George W. Bushs ablesen, in jenem berühmten Moment als Stabschef Andrew Card ihm in der Grundschule den entscheidenden Satz ins Ohr flüstert. Es folgen lange sieben Minuten, in denen die Zeit still zu stehen scheint. Bush selbst hat gesagt, diese Minuten hätten ihn an einen Stummfilm erinnert.

Anschläge vom 11. September auf das World Trade Center: Chronologie
16 Bilder

9/11 - Eine Chronologie

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Regungslos sitzt der Präsident da, sein Blick wandert durch den Raum. Er sieht die Kinder, die im Chor das Buch „The Pet Goat“ über eine Haustier-Ziege vorlesen. Er sieht die Reporter am Ende des Raums, die plötzlich alle telefonieren. „Ich wollte das Klassenzimmer nicht verlassen, ich wollte die Kinder nicht aufwühlen, ich wollte ein Gefühl der Ruhe vermitteln“, erinnert Bush sich später im Interview mit dem TV-Sender National Geographic. Doch im Rückblick vermittelt seine sehr lange Pause ein Gefühl der Schockstarre.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit verlässt Bush die Kinder, um in einem Nebenzimmer ein hastiges Statement aufzuschreiben. Bald tritt er vor die Kameras und verlässt dann eilig die Schule. Doch auch der Secret Service weiß nicht, wo der Präsident in dieser Bedrohungslage noch sicher ist. Statt ihn wie gefordert in die Hauptstadt zu fliegen, kreist die Air Force One ziellos über dem Südosten der USA.

„Du weißt wirklich nie, wie es sein wird, ein Präsident in Kriegszeiten zu sein, bis der Moment kommt“, sagt Bush im Rückblick. „Der Krieg brach unerwartet über uns herein.“ Als schließlich das vierte gekaperte Flugzeug in Pennsylvania abgestürzt war, habe er gewusst: „So sieht Krieg im 21. Jahrhundert aus.“

Der Tag des 11. September 2001 in Bildern

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