Interview mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger „Am eindringlichsten waren die fürchterlichen Zustände in dem wilden Camp“

Bonn · Die frühere Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos besucht. Dort erlebte sie fehlende medizinische Versorgung.

 Neben dem offiziellen Flüchtlingslager in Moria ist ein wildes Camp entstanden, in dem Tausende Menschen leben.

Neben dem offiziellen Flüchtlingslager in Moria ist ein wildes Camp entstanden, in dem Tausende Menschen leben.

Foto: dpa/Aggelos Barai

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, welches Bild wird Ihnen von dieser Reise besonders in Erinnerung bleiben?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Am eindringlichsten waren für mich die fürchterlichen Zustände in dem wilden Camp neben dem offiziellen Flüchtlingslager Moria, der Müll und der Dreck. Dazwischen laufen Kinder herum und spielen mit Steinen. Es gibt dort ja nichts. Die Vorstellung, dass Menschen dort schon zweieinhalb oder drei Jahre unter Plastikplanen hausen – das Bild wird man nicht mehr los. Wenn man einmal dort war, wird einem so bewusst, dass man die Situation nicht nur in Zahlen und Statistiken sehen darf, sondern auch der menschliche Blick gewahrt bleiben muss.

Woran fehlt es am meisten?

Leutheusser-Schnarrenberger: Als erste Ad-hoc-Maßnahme muss eine Gesundheitsversorgung eingerichtet werden. Moria war für maximal 3000 Flüchtlinge ausgelegt und ist vollkommen überfüllt. Aber um dieses Lager herum ist in den Olivenhainen dieses wilde Camp entstanden, in dem dringend eine medizinische Station benötigt wird. Es gibt dort viele Kranke und Schwache und viele Schwangere. Das sagt auch die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die dort unermüdlich tätig ist, aber bei 15 000 Menschen schnell an ihre Grenzen kommt.

Konnten Sie mit den Menschen dort sprechen?

 Besuchte Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP).

Besuchte Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP).

Foto: picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow

Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, denn ich spreche weder Farsi noch Dari wie die Afghanen, die das Leben im Lager prägen. 70 Prozent der Menschen dort kommen aus Afghanistan, außerdem leben dort viele Syrer und Iraker. Die Kinder kommen auf einen zu, zupfen einen an der Jacke und schauen einen mit großen Augen an. Das ist erschütternd.

Am Montag haben Migranten in der Inselhauptstadt Mytilini demonstriert und gefordert, dass sie auf das Festland gebracht werden. Was haben Sie davon mitbekommen?

Leutheusser-Schnarrenberger: In einem Lager gab es Demonstrationen, bei denen die Polizei auch Tränengas eingesetzt hat, das habe ich aber nur aus der Ferne wahrgenommen. Im Zentrum von Mytilini habe ich dann Flüchtlinge gesehen, die friedlich demonstriert und Pappschilder mit der Forderung „Freiheit“ gezeigt haben.

Wie blicken die Politiker vor Ort auf die Situation?

Leutheusser-Schnarrenberger: Der Bürgermeister und die Lokalpolitiker sind sehr verärgert über die griechische Regierung. Der Vizebürgermeister berichtet etwa, dass sie mit den Müllbergen in Moria überhaupt nicht fertig werden können. Der Gouverneur schimpft, weil das wilde Lager ja überhaupt erst seit Mitte vergangenen Jahres in diesen Dimensionen entstanden ist, weil keine Flüchtlinge mehr auf das Festland gebracht werden. Seitdem hat sich die Situation deutlich verschlimmert. Alle sind stinksauer und fühlen sich alleine gelassen.

Warum?

Leutheusser-Schnarrenberger: Der Gouverneur erzählte, dass häufig Regierungsmitarbeiter oder der neue Migrationsminister Lesbos besuchten. Dann würde geredet und geredet, aber hinterher passiere nichts. Die Lokalpolitiker haben ja auch gemeinsam mit den Einheimischen protestiert, und zwar nicht gegen die Flüchtlinge, sondern gegen die griechische Regierung. Diese soll sich zum Beispiel um die Gesundheitsversorgung der Einheimischen kümmern. Das Krankenhaus im Süden der Insel ist aber überfüllt. Ärzte, Schwestern und Betten fehlen. Und wenn Einheimische nicht behandelt werden können, weil auch Flüchtlinge Schlange stehen, führt das zu Spannungen auf dieser Insel, die seit vier Jahren Flüchtlinge wirklich sehr offen aufgenommen hat.

Griechenland will nun schwimmende Barrieren testen, um Flüchtlinge von der Überfahrt abzuschrecken ...

Leutheusser-Schnarrenberger: Der Gouverneur, der auch Ingenieur ist, hat das nur mit dem Wort „lustig“ kommentiert und gesagt, dass das nicht funktionieren könne. Auch rechtlich ist diese Aktion nicht durchdacht, denn man kann diese Barrieren nur auf griechischem Territorium errichten, und von dort dürften die Flüchtlinge nicht mehr zurückgeschickt werden.

Was muss jetzt passieren?

Leutheusser-Schnarrenberger: Die Asylverfahren müssen unbedingt beschleunigt werden, damit die Flüchtlinge eine Perspektive haben und sehen, wann sie dran sind. Es kann nicht sein, dass Interviewtermine, die ja die Grundlage für eine Entscheidung sind, immer wieder abgesagt werden. So ziehen sich Verfahren, die eigentlich nach zwei Monaten abgeschlossen sein sollten, mindestens über acht oder neun Monate und manchmal auch über zwei Jahre hin. Viele setzen jetzt darauf, dass das neue Asylrecht in Griechenland die Verfahren beschleunigt. Aber es wird auch Unterstützung von außen benötigt.

Inwiefern?

Leutheusser-Schnarrenberger: Vor Ort helfen zum Beispiel immer wieder Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf), aber das entspricht vielleicht 20 Prozent von dem, was insgesamt gebraucht wird. Deshalb muss die EU ihr Personal dort dringend aufstocken, denn es kommen nach wie vor täglich neue Flüchtlinge an. Bis das funktioniert, muss in meinen Augen von Deutschland aus eine Hilfsinitiative ausgehen.

Wie soll diese aussehen?

Leutheusser-Schnarrenberger: In Deutschland wollen Kommunen Flüchtlinge aufnehmen. Also sollte Bundesinnenminister Horst Seehofer mit seinen Kollegen in der EU darüber verhandeln,  wie man sofort die Schwächsten, also Kinder, aufnehmen könnte. Nicht in einem Alleingang Deutschlands, sondern in Absprache mit anderen europäischen Staaten. Und auch nicht mit der Vorgabe, dass alle Staaten mitmachen müssen, denn dann wird wieder nichts passieren. Da müssen die Willigen ran. Deutschland, Frankreich, die Niederlande. Andere Länder müssen dann andere Leistungen erbringen, also etwa zahlen, Personal schicken oder vielleicht die Verantwortung für die Müllentsorgung übernehmen. Es geht um praktische Maßnahmen, und nicht darum, den zehnten Masterplan in der Europapolitik zu schreiben.

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