Gastbeitrag von EZB-Präsidentin Lagarde: „Staaten müssen einander stützen“

Frankfurt · Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde schreibt in einem Gastbeitrag über den Weg Europas aus der Corona-Krise. Wie kann dies gelingen?

 Christine Lagarde sucht einen gemeinsamen Weg aus der Krise.

Christine Lagarde sucht einen gemeinsamen Weg aus der Krise.

Foto: dpa/Boris Roessler

Auf der ganzen Welt wird von staatlicher Seite zum Kampf gegen das Coronavirus mobil gemacht. Covid-19 ist ein neuartiger Schock, der mit herkömmlichen Methoden nicht zu bewältigen ist. Wir brauchen gezielte Maßnahmen für diejenigen, die von der Krise am stärksten betroffen sind.

Und das sind im Moment die Unternehmen und Familien, die unter massiven Einkommensverlusten leiden und sich zunehmend Sorgen um die Zukunft machen. Die geldpolitischen Maßnahmen der EZB sollen gerade diese Zielgruppen erreichen. Wir haben unsere Maßnahmen so ausgestaltet, dass die Liquidität diejenigen Menschen und Wirtschaftssektoren erreicht, die sie am dringendsten benötigen.

Was macht diese Krise besonders? Sie hat andere Ursachen als eine Finanzkrise oder eine gewöhnliche Rezession. Der drastische Konjunktureinbruch ist eine Folge der unvermeidlichen Entscheidung, die Menschen zum Zuhausebleiben aufzufordern. Nun gilt es zu verhindern, dass unverschuldet in diese vorübergehende Krise geratene  gesunde Unternehmen kollabieren und Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren.

Die Gefahren für die Beschäftigung sind so groß wie seit den 1930er Jahren nicht mehr. So waren beispielsweise 2009 in den Vereinigten Staaten in der Spitze in einer Woche bis zu 665 000 neue Anträge auf Arbeitslosenunterstützung zu verzeichnen. In den letzten beiden Wochen ist diese Zahl zunächst auf 3,3 Millionen und dann auf 6,6 Millionen gestiegen. Die Arbeitslosenzahlen in Europa verändern sich in der Regel schleppender und schwanken weniger stark, doch es sind bereits besorgniserregende Anzeichen erkennbar: Der Einkaufsmanagerindex verzeichnete im März einen Rekordrückgang bei der Beschäftigung.

Damit es zu keinem langfristigen Schaden kommt, müssen wir soweit wie möglich den Zustand aufrechterhalten, in dem sich die Wirtschaft vor der Pandemie befand. Dafür bieten sich verschiedene Instrumente an. Zum einen staatliche Programme zur Unterstützung von Kurzarbeit. Zum anderen eine Mobilisierung des Bankensystems, um Unternehmen mit Betriebskapital zu versorgen, damit sie ihre Beschäftigten und ihre Rechnungen weiter bezahlen können.

Die Wirtschaft im Euro-Raum ist bankenbasiert. Die Förderung der Kreditvergabe trägt also dazu bei, dass die Liquidität rasch jeden Bereich der Wirtschaft erreicht.

Ergänzend hierzu ergreifen Staaten und Zentralbanken Maßnahmen, die den Banken dies überhaupt erst ermöglichen. Staaten stellen Kreditgarantien zur Verfügung, die das Kreditrisiko der Banken reduzieren: Für solche Programme wurden im Euro-Raum bereits Beträge in Höhe von rund 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zugesagt. Darüber hinaus stellt die EZB Liquidität in ausreichendem Umfang zur Verfügung, um Liquiditätsrisiken bei den Banken zu beseitigen, und sie stellt gleichzeitig sicher, dass die Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft insgesamt weiterhin günstig bleiben.

Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf kleineren Unternehmen, Selbstständigen und Privatpersonen. Die nationalen Zentralbanken des Euro-Systems können bei unseren Kreditgeschäften Darlehen an Unternehmen und Selbstständige als Sicherheiten akzeptieren, die von einem Covid-19-Garantiesystem abgedeckt sind. Auch kleinere Kredite sind als Sicherheiten zugelassen. Durch diese Maßnahmen wird es für die Banken attraktiver, Kredite an Kleinstunternehmen und Einzelunternehmer zu vergeben, die in der Regel einen weniger guten Zugang zu Krediten haben.

Sie können bei uns zur Refinanzierung bis zu drei Jahre lang Mittel zu negativen Zinssätzen aufnehmen. Im Euro-Raum gibt es rund 22 Millionen Selbstständige. Das entspricht 14 Prozent der Gesamtbeschäftigung. In Deutschland beläuft sich diese Zahl auf 9,2 Prozent. Die Maßnahmen werden also einem größeren Teil der Erwerbsbevölkerung den Zugang zu Krediten erleichtern. Zum anderen kaufen wir ein großes Volumen an Anleihen des öffentlichen und privaten Sektors, damit alle Wirtschaftszweige von günstigen Finanzierungsbedingungen profitieren können. Bis Ende des Jahres können wir Anleihen in Höhe von mehr als einer Billion Euro erwerben.

Zusammengenommen zeigen diese Maßnahmen, dass wir eine prozyklische Verschärfung der Finanzierungsbedingungen während einer der größten gesamtwirtschaftlichen Katastrophen der Neuzeit nicht zulassen werden. Unsere Maßnahmen werden allerdings eine größere Wirkung entfalten, wenn alle Politikbereiche ineinandergreifen und einander verstärken. Die Staaten müssen einander unterstützen, damit sie alle zusammen die bestmöglichen Gegenmaßnahmen gegen einen allgemeinen Schock ergreifen können, für den keiner verantwortlich ist.

Produktionskapazität und Beschäftigung lassen sich am besten schützen, indem eine umfassende Koordinierung finanz- und geldpolitischer Maßnahmen sowie gleiche Bedingungen im Kampf gegen das Virus gewährleistet werden. Wenn nicht alle Länder wieder vollständig genesen, werden die anderen darunter leiden. Solidarität ist also im Grunde genommen Eigeninteresse. Die EZB wird auch weiterhin ihren Beitrag leisten, indem sie das Preisstabilitätsmandat verfolgt und den Menschen in Europa dient.

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