Der Schönwetterpräsident Wladimir Putin in der Coronakrise

Moskau · In der Corona-Krise scheut sich Russlands Präsident Wladimir Putin vor unpopulären Entscheidungen. Die scharfen Kontrollen und Strafen werden meist von Gouverneuren und Bürgermeistern angeordnet.

 Er lässt derzeit vieles von seinem Staatsapparat regeln: Russlands Präsident Wladimir Putin.

Er lässt derzeit vieles von seinem Staatsapparat regeln: Russlands Präsident Wladimir Putin.

Foto: AP/Alexei Druzhinin

Anfangs sorgte sich Wladimir Putin weniger um das Coronavirus als um Falschmeldungen darüber, angeblich vor allem aus dem Ausland. „Ihr Ziel ist verständlich: Panik unter der Bevölkerung säen.“ Angesichts von damals nur 114 infizierten Mitbürgern, erklärte der Präsident Mitte März zufrieden, man habe mit vorzeitigen und entschlossenen Maßnahmen eine massenhafte Verbreitung der Krankheit in Russland verhindert.

Putin selbst schickte medizinische Militärkolonnen nach Italien, Beatmungsgeräte in die USA, präsentierte Russland als souveränen Samariter, selbst gegen die Seuche gefeit. Und der kremlnahe TV-Doktor Alexander Mjasnikow verkündete triumphierend, in Russland sei die reale Chance, sich mit Covid-19 anzustecken, gleich null.

Allein am Donnerstag wurden 4774 neue Coronafälle registriert, insgesamt sind nach offiziellen Angaben inzwischen 62 773 Russen infiziert. Die amtliche Zahl von 555 Toten wirkt noch immer minimal. Aber Anfang April hat auch Russland drastische Quarantänemaßnahmen ergriffen. Und Putins Sprecher Dmitri Peskow tauchte mit einem elektronischen Virenblocker am Revers auf, Modell „Air Doctor“. Experten streiten, ob der Chlordioxid-Apparat effektiv, nutzlos oder gar gefährlich ist. Das gilt zur Zeit für viele Maßnahmen, die im Kreml beschlossen werden.

Die Pannenserie begann mit einem TV-Auftritt, bei dem Wladimir Putin der Wirtschaft angesichts der weltweiten Krise Steuererleichterungen und dem Volk eine „arbeitsfreie Woche“ versprach, bei vollem Lohn. Es gab entsetzte Anfragen von Mittelstandsunternehmern, wer das bezahlen solle. Putin aber verlängerte eine Woche später die „arbeitsfreie“ Zeit bis Ende April, versprach erneut vollen Lohnausgleich. Obwohl Millionen Russen weiter malochten, von ihren Arbeitgebern in unbezahlten Urlaub geschickt oder gefeuert worden waren.

Und zur allgemeinen Überraschung erteilte Russlands starker Mann den Gebietsgouverneuren „zusätzliche Vollmachten“, sie sollten selbst entscheiden, wie sie das Coronavirus bekämpfen wollten. „Putin zeigt in der Krise keine Lust, unangenehme Entscheidungen zu fällen“, staunt der Politologe Michail Winogradow gegenüber unserer Zeitung. Und Forbes Russland kommentiert: „Die Staatsmacht, die alle Kompetenzen an sich gezogen hat, schlägt sich vor den Augen der verblüfften Gesellschaft in die Büsche.“

Drei Regionalbosse traten eilig zurück, die meisten anderen übernahmen die straffe Quarantäne, die Moskaus Bürgermeister Sobjanin zwischen Putins Schönwetter-TV-Reden angeordnet hatte. Die Pandemie aber wuchert weiter. Es mehrten sich Berichte von Patienten, die mit Lungenentzündungen – symptomatisch für schwer Coronakranke – in überfüllten Krankenhausabstellräumen landeten oder wieder nach Hause geschickt wurden. Eine in Moskau mit Pneumoniesymptomen ins Krankenhaus eingelieferte 48-jährige Frau wurde zwei Tage später von Sozialarbeitern auf einer Bank vor ihrem Wohnhaus abgesetzt und starb dort, angeblich an Herzbeschwerden.

Kliniken in Moskau, der Republik Komi, in Ufa, Jekaterinburg oder Murmansk mussten wegen Masseninfektionen reihenweise schließen. Es mehren sich Gerüchte, die offiziellen Zahlen seien viel zu niedrig, die Staatsduma erließ ein Gesetz, das Personen, die solcherlei „Fakes“ in Umlauf bringen, Strafen von bis zu umgerechnet 5000 Euro androht.

In Moskau, mit 33 940 Fällen, auch Russlands Corona-Hauptstadt, führte Bürgermeister Sobjanin ein System digitaler Passierscheine ein, um die Quarantäne zu kontrollieren. Aber dazu überprüften mit Handys bewaffnete Polizisten anfangs alle U-Bahnpassagiere einzeln, an den Stationen standen tausende Menschen sehr ansteckungsträchtig Schlange. Putin, der am selben Tag wieder einmal vor der TV-Nation auftrat, verlor kein Wort darüber. „Schade“, kommentierte selbst sein Lieblingsreporter Andrei Kolesnikow von der Zeitung Kommersant. „Er hätte wenigstens sein Bedauern aussprechen können.“

Stattdessen verkündete der Staatschef Finanzhilfen für kleine und mittelständische Betriebe: Umgerechnet 150 Euro pro Angestelltem im Monat, auszahlbar ab Mitte Mai. Viele Unternehmer reagierten enttäuscht bis wütend: „Hinter dieser Wirtschaftspolitik steht auch der zynische Versuch, die Krise auszunutzen, damit die Mittelständler einfach verrecken und noch mehr Einwohner direkt vom Staat abhängig sind“, schreibt der Nowosibirkser Immobilienmakler Dmitri Choljawtschenko auf dem Portal tayga.info.

Nach Angaben der russischen Industrie- und Handelskammer droht drei Millionen Unternehmen die Pleite, andere Experten rechnen mit bis zu 15 Millionen mehr Arbeitslosen. In der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas gingen am Montag mehr als 1500 Menschen aus Protest gegen die Quarantäne und die wirtschaftliche Lage auf die Straße, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. „Die Krise verbittert vor allem die armen Leute, die eigentlich immer für Putin gestimmt haben“, sagt Politologe Winogradow.

Moskaus Stadtoberhaupt Sobjanin aber spielt weiter die Rolle des bösen Sheriffs. Er schlug am Mittwoch vor, das umstrittene digitale Kontrollsystem auf ganz Russland auszudehnen, bis Donnerstag hatten sich 21 Regionen seiner Initiative angeschlossen. Auch Verkehrskameras werden eingesetzt, um die Bewegungen der russischen Autofahrer zu überwachen. Menschenrechtler befürchten, ein Teil der Kontrollmaßnahmen könnten nach der Pandemie fortgesetzt werden. Und das nationalistische Portal Zargrad titelt düster: „Sie haben das digitale KZ schon eingeführt.“ Wladimir Putin hat sich zu den neuen Verschärfungen übrigens noch nicht geäußert.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Eine andere Welt
Kommentar zu den weltweiten Militärausgaben Eine andere Welt
Zum Thema
Aus dem Ressort
Ungutes Gefühl
Kommentar zum Sterbehilfe-Urteil der Niederlande Ungutes Gefühl