Debatte im britischen Unterhaus Das Endspiel um den Brexit beginnt

London · Das Unterhaus debattiert fünf Tage lang über das Brexit-Abkommen. Premierministerin Theresa May muss mit Widerstand aus allen Richtungen rechnen.

Es kann nicht gerade behauptet werden, dass die britische Premierministerin Theresa May auf einfache Tage zurückblickt. Seit der Einigung zwischen London und Brüssel auf einen Brexit-Deal am vorletzten Wochenende tourte sie durch das Königreich, gab Interviews in Radiosendern und hielt Ansprachen vor Lobbyverbänden oder in Altenheimen. Dem Volk versuchte sie so, das Abkommen zu erklären. Doch der härteste Teil ihrer Mission beginnt erst noch. Denn nicht die Bevölkerung hat das letzte Wort, sondern May muss das Parlament von dem Austrittsvertrag plus politischer Erklärung überzeugen. Dafür bleiben ihr insgesamt fünf Debattentage Zeit, am 11. Dezember wird abgestimmt.

Bislang sieht alles nach einer vernichtenden Niederlage für die Regierungschefin aus, was sie aber hartnäckig ignoriert. Das wiederum sorgt auf der Insel zunehmend für Erstaunen. Dabei ist der Widerstand groß und massiv. Es sperrt sich nicht nur die Opposition aus Labour-Partei, Liberal-Demokraten und schottischer Nationalpartei (SNP). Auch die nordirische Unionistenpartei DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung angewiesen ist, hat angekündigt, den Kompromiss abzulehnen, weil er einen Sonderstatus für ihren Landesteil vorsieht.

Hinzukommen die europaskeptischen Hardliner in Mays eigenen konservativen Reihen, die ihr die Gefolgschaft nicht nur verweigern wollen, sondern offen die Messer wetzen. Für sie ist jeder Schritt auf die EU zu einer Annäherung zu viel. Einige der rebellierenden Parlamentarier fordern gar eine ungeordnete Scheidung ohne Abkommen. Andere wollen May zurück nach Brüssel an den Verhandlungstisch schicken. Die EU wiederum lehnt es ab, das Vertragswerk noch einmal aufzuschnüren. Was wiederum Boris Johnson, das Sprachrohr der Brexiteers, nicht davon abhält, in seinem Hausblatt „Telegraph“ regelmäßig einen besseren Deal zu versprechen. So drehen sich alle im Kreis. Aber auch viele Europafreunde planen, das Abkommen bei der Abstimmung nicht zu billigen. Sie spekulieren darauf, so ein erneutes Referendum erzwingen zu können.

Die Wortgefechte im völlig zerstrittenen Parlament dürften in den nächsten Tagen jedenfalls heftig ausfallen. Und sollte May das Votum verlieren, sind weder ihr Rücktritt noch Neuwahlen ausgeschlossen. Als wahrscheinlicher gilt aber, dass die Premierministerin in den Hinterzimmern von Westminster mit Lockmitteln, Drohungen und Geschenken wie Adelstiteln einzelne Kandidaten entweder umzustimmen gedenkt oder zur Enthaltung bringen will.

May kämpft um ihr politisches Überleben

Im Königreich halten sich die politischen Beobachter mit Prophezeiungen zurück. Nun will May ohnehin erst einmal den Fokus auf die nächsten Tage legen, in denen sie auch um ihr politisches Überleben kämpft. „Das ist das Abkommen, das dem britischen Volk gerecht wird“, warb sie am Dienstag beharrlich und gewohnt mantrahaft.

Es ist bezeichnend, dass die entscheidende Debatte im Unterhaus mit großer Verzögerung begann, weil wieder einmal politische Turbulenzen in Westminster ausgebrochen waren. Es gab Ärger um ein zu dem Deal angefertigtes Rechtsgutachten, das die Regierung nur in einer Zusammenfassung veröffentlicht hatte. Die Opposition aber fordert, die juristische Expertise komplett einsehen zu können. Kritiker befürchten, dass heikle Passagen über Brexit-Folgen geheim gehalten werden. Will May verheimlichen, dass das Land nach dem EU-Austritt auf ewig an die EU gebunden bleibt?

Sogar den Briten gehen trotz ihres so reichen englischen Wortschatzes mittlerweile die Bezeichnungen dafür aus, was in Westminster passiert. Die Schlagzeilen werden von „Endspiel“, „Schlammschlachten“, „Chaos“, „Parteikriegen“ und „Nervenzusammenbrüchen“ dominiert, um zumindest einige der eher harmlosen Übersetzungen zu nennen.

In der „Mutter aller Parlamente“, wie die Vorsitzende des Unterhauses Andrea Leadsom die altehrwürdige Stätte lobte, geht es zu wie in einem Theater, das wohl sogar Großbritanniens Ober-Dramatiker William Shakespeare mit Neid betrachtet hätte. Der Ausgang des Schauspiels ist völlig offen.

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