Der Abend vor der Katastrophe

Das Rheinland widmet sich mit einem ambitionierten Programm dem Ersten Weltkrieg und dem Epochenbruch 1914

Ist das Gros der Menschheit eher passiv, von mächtigen Kräften gelenkt in den Ersten Weltkrieg geschlittert, wie Christopher Clark in seinem gerade erschienenen Werk mit dem provokanten Titel "Die Schlafwandler" schreibt? Oder gab es in vielen Bevölkerungsteilen einen gärenden Willen zur Veränderung, ein Verlangen nach einer Katharsis?

Dieser Meinung hängen etwa die Düsseldorfer Literatur- und Kultursoziologin Gertrude Cepl-Kaufmann und Clarks Kollege Gerhard Hirschfeld an, der im November gemeinsam mit Gerd Krumeich das Buch "Deutschland im Ersten Weltkrieg" herausbringt. Cepl-Kaufmann, Hirschfeld und Krumeich sind Mitglieder des Beirats für das ambitionierte Projekt "1914 - Mitten in Europa - Das Rheinland und der Erste Weltkrieg", mit dem der Landschaftsverband Rheinland (LVR) an das Schicksalsjahr 1914 erinnert, das als "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird und über Leid und Zerstörung hinaus einen Epochenschnitt markiert.

Am Mittwochabend stellten unter anderem die LVR-Dezernentin Milena Karabaic und der Projektleiter Thomas Schleper "1914 - Mitten in Europa" im Bonner Landesmuseum vor. Die Reihe startet dort am 23. September mit dem interdisziplinären Kongress "Aggression und Avantgarde" sowie der Eröffnung der Ausstellung "1914 - Die Welt in Farbe". Über ein Jahr lang werden Museen von Wesel und Xanten bis Euskirchen mit elf Ausstellungen, außerdem weit über hundert Rahmenveranstaltungen und Exkursionen in großer Ausführlichkeit dokumentieren, was 1913 und 1914 im Rheinland, in der Mitte Europas geschah. Von der Mentalitätsgeschichte bis zur Technik, von Kunst und Literatur bis zur Wissenschaft reicht das Spektrum.

Es sei das erste umfassende, kuratierte LVR-Projekt zu einem großen Thema, sagte die LVR-Dezernentin Milena Karabaic stolz, und im Vergleich mit den 1914-Programmen der übrigen Bundesländer besonders ambitioniert. Dass sich der Bund weitgehend aus dem Thema Erster Weltkrieg heraushlte, kritisierte sie am Rande, "ein Armutszeugnis" sei das. Eine Fülle von LVR-Institutionen und etliche Partner aus ganz NRW beteiligen sich. Allein 50 Wissenschaftler, vom Historiker bis zum Soziologen, vom Germanisten bis zur Volkskundlerin, werden beim Bonner Kongress auftreten, der auch dem Kabarettisten Achim Konejung ein Forum gibt.

Laut Projektleiter Schleper war bislang der Vorabend des Ersten Weltkriegs in der Forschung eher unterbelichtet - im Gegesatz zur breiten historischen Würdigung der reinen politischen Ereignisse unmittelbar vor Kriegsausbruch und der eigentlichen Kriegshandlungen. Um ein Gefühl für diesen gewaltigen Umbruch zu bekommen, empfiehlt Schleper, gleich mit der Bonner Ausstellung "Die Welt in Farbe" in das Thema zu starten: "Hier wird die Vorkriegszeit sehr authentisch beleuchtet - als Friedensvision". Gezeigt werden spektakuläre Farbfotos aus der Zeit, die eine Welt zeigen, die es nach 1914 nicht mehr gab. "Erfahrungen im Hier und Jetzt werden mit diesen Erinnerungsbildern gespiegelt", meint Hausherrin Gabriele Uelsberg, "wir sehen Postkarten, die Welt in bunten Bildern - und dann bricht die Idylle".

Aus vielen Perspektiven wird diese Zeit betrachtet. Im Rheinland verdichtet sich die Problematik der Zeit: Hier liegen die später kriegswichtigen Zentren der Logistik, der ökonomischen Macht um Kohle und Stahl, hier gärt an vielen Stellen die Moderne, leben die Literaten, Maler und Chronisten, die versuchen, den Zeitgeist zu beschreiben und zu deuten. Köln und Düsseldorf steuern aufregend klingende Ausstellungen bei, in Düren und Wesel gibt es hoch interessante Randaspekte, die sich auf Exkursionen vertiefen lassen. Das Erinnerungsjahr bietet sogar eine Kombikarte mit der Bonner Bundeskunsthalle, die ab November "1914 - Die Avantgarden im Kampf" zeigt.

Auf eines aber muss der Rheinländer verzichten: "Die große Überblicksausstellung zum Ersten Weltkrieg, das historische Schwarzbrot, wird es nicht geben", bremst Hirschfeld die Erwartungen, "das können wir nicht leisten." Ein einziges, aber echtes Manko in einem viel versprechenden Jahr.

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