Wahl in der Türkei Der Tag, an dem Erdogan das Beten vergaß

ISTANBUL · Wie zu einer Beerdigung versammelt sich die Führungsriege der türkischen Regierungspartei AKP am späten Sonntagabend auf dem Balkon des Partei-Hauptquartiers in Ankara, vor dem ihre ratlose Anhängerschaft wartet.

Traurige Mienen in grauen Anzügen reihen sich auf der Empore aneinander, kraftlos winken die Parteioberen dem Fußvolk zu. Selbst der sonst stets lächelnde Regierungssprecher Bülent Arinc sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen.

Auf dem Balkon müht sich AKP-Chef und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu mit einer Rede ab, in der er so tut, als habe seine Partei gerade einen neuen strahlenden Sieg errungen. Dabei hat die AKP bei der Parlamentswahl nach mehr als zwölf Jahren und einer unvergleichlichen Siegesserie unerwartet die Regierungsmehrheit verloren. Schon in guten Zeiten ist Davutoglu kein mitreißender Redner. Jetzt springt überhaupt kein Funke mehr über. Die Menge der AKP-Aktivisten vor dem Gebäude jauchzt nur ein einziges Mal auf - als Davutoglu den Namen Recep Tayyip Erdogan erwähnt.

Doch Erdogan fehlt auf dem Balkon, und er ist auch sonst nirgendwo zu sehen. Der Präsident, der in den Wochen des Wahlkampfs allgegenwärtig war, ist abgetaucht. Von ihm, der sonst keinen Tag vergehen lässt, ohne die politischen Gegner als Lügner, Schwule, Atheisten, Landesverräter und Terroristenhelfer zu beharken, ist kein Wort mehr zu hören. Erdogan ist verstummt, und in der AKP fühlen sich viele plötzlich sehr allein.

Eine überwältigende Mehrheit von mindestens 330 Parlamentssitzen hatte Erdogan für die Regierungspartei gefordert, um damit Verfassungsänderungen zur Einführung eines Präsidialsystems durchzusetzen. Die "Neue Türkei" brauche einen starken Mann an der Spitze, lautete sein Argument, mit dem er im Wahlkampf für die AKP auftrat - obwohl die Verfassung dem Präsidenten parteipolitische Neutralität auferlegt. Der 61-Jährige kümmerte sich nicht darum, er glaubte sich einem großen Ziel sehr nahe. Dann kam der Wahltag. Die AKP stürzte ab. Erdogans Traum zerplatzte.

Wie der Präsident reagierte, als er das Ausmaß des Debakels begriff, berichtete der normalerweise sehr gut informierte "Fuat Avni" auf Twitter. Unter diesem Pseudonym prophezeit das zum Erdogan-Gegner gewordenes Mitglied des engeren Zirkels um den Präsidenten immer wieder präzise bevorstehende Polizeiaktionen gegen Regierungskritiker und andere Details. Über Erdogans Reaktion auf den Wahlausgang schrieb "Fuat Avni", der Präsident sei in Schockstarre wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen geblieben. Sogar die Gebetszeiten habe der fromme Muslim vergessen.

In Ankara beginnt die Suche nach einer stabilen Regierungskoalition, in Istanbul schmiert die Börse ab, der Lira-Kurs rutscht in den Keller. Erdogan bleibt verschwunden. Das Präsidialamt lässt in einer dürren schriftlichen Mitteilung erklären, der "Ratschluss der Nation" stehe über allem. Immerhin, sagen einige von Erdogans Gegnern: Der Präsident nimmt das Wahlergebnis an.

Türken in Deutschland mögen Erdogans AKP

Bei der Wahl hat die regierende AKP bei den türkischen Wählern in Deutschland deutlich besser abgeschnitten als in der Türkei selbst. 53,6 Prozent der wahlberechtigen Türken in der Bundesrepublik stimmten für die AKP. Insgesamt erhielt die AKP nur knapp 41 Prozent der Stimmen.

Auch die pro-kurdische HDP erreichte in Deutschland ein besseres Ergebnis. Sie kam auf 17,5 Prozent, gegenüber 13,1 Prozent insgesamt. Die säkularistische CHP als größte Oppositionspartei kam in Deutschland auf knapp 16 Prozent. Insgesamt erhielt sie ein Viertel der Stimmen.

Für die nationalistische MHP gaben in der Bundesrepublik Deutschland 9,7 Prozent ihre Stimme ab, im Gesamtergebnis erzielte sie knapp 16,5 Prozent.

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