Einmarsch des türkischen Militärs Die humanitäre Bilanz in Syrien ist verheerend

Genf · Das Leiden der Zivilbevölkerung in Nordostsyrien nimmt immer weiter zu. Die Weltgesundheitsorganisation geht inzwischen davon aus, dass bis zu 200.000 Menschen auf der Flucht sind.

 Auf dem Foto ist Rauch zu sehen, der über der syrischen Stadt Ras al-Ain aufsteigt, die zuvor durch die türkischen Streitkräfte bombardiert wurde.

Auf dem Foto ist Rauch zu sehen, der über der syrischen Stadt Ras al-Ain aufsteigt, die zuvor durch die türkischen Streitkräfte bombardiert wurde.

Foto: dpa/Lefteris Pitarakis

Knapp eine Woche nach dem Einmarsch des türkischen Militärs in das Kurdengebiet in Nordostsyrien steht fest: Die Zivilisten leiden am härtesten unter den Kämpfen zwischen den Einheiten von Präsident Recep Tayyip Erdogan und kurdischen Milizen. Die Invasion bringt Vertreibung und Tod. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, äußerte sich in den vergangenen Tagen wiederholt "ernsthaft besorgt" über das blutige Chaos. Und er appellierte an die Konfliktparteien, Zivilisten und zivile Einrichtungen zu schützen - doch die Aufrufe verpuffen wirkungslos. Es fehlt an medizinischer Unterstützung

Im betroffenen Nordosten Syriens leben nach UN-Erhebungen rund 2,2 Millionen Menschen, die Mehrheit davon braucht jetzt humanitäre Hilfe. Schon vor dem Start der türkischen Operation mussten Hilfsorganisationen rund 850.000 Einwohnern beistehen, etwa mit Lebensmitteln und Medikamenten. "Die türkische Invasion markiert ein weiteres tragisches Kapitel des mehr als acht Jahre tobenden Krieges in Syrien", betont ein UN-Diplomat.

Seit Beginn der Erdogan-Offensive am Mittwoch voriger Woche sind laut den UN schon "viele" Zivilisten verletzt und getötet worden, darunter auch Kinder. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte erhält laut einem Sprecher "jeden Tag" Berichte über neue Opfer. Die Menschen werden von Militärjets, Geschützen und Artillerie beschossen. Wie viele unbeteiligte Mädchen und Jungen, Frauen und Männer genau versehrt wurden oder starben, lässt sich noch nicht ermitteln.

Auch können die UN bislang nur schätzen, wie viele Menschen vor der Gewalt geflohen sind. Am Dienstag bezifferte das UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe die Zahl der Vertriebenen auf "mindestens 160.000" Menschen. Die Weltgesundheitsorganisation geht von "bis zu 200.000 Menschen" auf der Flucht aus. Das Hilfswerk Unicef schätzt, "dass fast 70.000 Kinder vertrieben wurden". Wenn diese Größenordnungen zutreffen, dürfte die Erdogan-Offensive einen unrühmlichen Platz in der jüngeren Kriegsgeschichte einnehmen. Bei nur wenigen Militäroperationen in den vergangenen Jahren wurden innerhalb weniger Tage so viele Menschen verjagt.

Im Zuge der Kämpfe steigt auch die Zahl der Menschen, die dringend medizinische Unterstützung benötigen: Die Weltgesundheitsorganisation nennt eine Zahl von bis zu 1,5 Millionen Bedürftigen. Angesichts dieser Dimension müssten Attacken auf Gesundheitseinrichtungen eigentlich tabu sein. Doch nach Erkenntnissen der WHO und von Unicef gerieten mehrere medizinische Einrichtungen und Krankenwagen unter Beschuss. Der ohnehin schon stark ausgeprägte Mangel an medizinischem Personal in der Region verschärft sich weiter - viele der Mitarbeiter des Gesundheitswesens befinden sich unter den Vertriebenen der vergangenen Tage.

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