Ein Jahr nach dem Absturz von Flug MH17 Ein Berg von Lügen und Widersprüchen

MOSKAU · Ein Jahr danach ist die Katastrophe ungeklärt. Vergangenen September nannte der niederländische Sicherheitsrat, der die Ermittlungen leitet, die Absturzursache: zahlreiche "Objekte", die "mit hoher Energie" den Bug der malaysischen Boeing durchschlugen, ein Abschuss also. Das Endergebnis der Untersuchungen wird im Herbst erwartet.

Aber der Fernsehsender CNN berichtet schon jetzt, die niederländischen Ermittler gingen davon aus, dass die Todesrakete aus einem von Rebellen kontrollierten Dorf abgeschossen worden sei. Zudem haben Behörden und Medien mehrerer Länder eigene Versionen publik gemacht. Sie verdächtigen drei Parteien:

Die Rebellen

Die malaysische Boeing stürzte über dem Gebiet der prorussischen Aufständischen ab. Kurz darauf meldeten Separatistenführer den Abschuss einer ukrainischen AN-26-Transportmaschine. Danach unterstellten viele Beobachter den Rebellen, sie hätten die Boeing mit einer ukrainischen AN-26 verwechselt und sie mit der Rakete eines erbeuteten Buk M1-Flugabwehrsystems abgeschossen.

Aber inzwischen häufen sich Expertenstimmen aus dem Westen wie aus Russland: Die Rebellenverbände, damals erst gut acht Wochen im Kampf, seien unfähig gewesen, eine Buk-Rakete abzufeuern. Das hochkomplexe System muss von Experten bedient werden, die mindestens sechs Monate gemeinsam trainiert haben. Die Rebellen waren es also kaum. Sie werden trotzdem oft beschuldigt, offenbar, um Russland selbst nicht direkt anzuklagen.

Das ukrainische Militär

Bei Tests über dem Schwarzen Meer versenkten ukrainische Raketentruppen 2001 irrtümlich eine russische Passagiermaschine, es gab 78 Tote. Russische Fachleute werfen den Ukrainern jetzt eine ähnliche Panne vor: Sie sollen die Boeing mit einem russischen Aufklärungsflieger verwechselt und die Rakete aus dem Dorf Saroschtschenskoje, 20 Kilometer südwestlich der Abschussstelle, abgeschossen haben.

Allerdings entlarvte das britische Rechercheportal Bellingcat Bilder des russischen Verteidigungsministeriums von Buk-Abschussrampen dort als Fotomontage.

Alternativ machen russische Medien ukrainische SU-25-Kampfjets verantwortlich. Die Komsomolskaja Prawda präsentierte einen Zeugen, der auf einem ukrainischen Militärflughafen am Tag des Absturzes eine SU-25 landen sah, der angeblich eine LuftLuft-Rakete fehlte. Allerdings ist die SU-25 in Höhen von über 10 000 Meter langsamer als eine Boeing 777, ihre R-60 Raketen haben zu wenig Sprengkraft, um eine Boeing in Stücke zu schießen.

[kein Linktext vorhanden]Ein Abschuss durch die Ukrainer ist möglich, aber wenig wahrscheinlich. Zumal die Gegenseite vergangenen Juli mehr Grund hatte, Buk-Abwehrsysteme einzusetzen. Stellte sich doch heraus, dass es die Ukrainer waren, Kiew drohte ein diplomatisches Waterloo. Bisher sieht der Westen die Ukraine als Opfer russischer Aggression. Als Boeing-Killer aber könnte sie Unterstützung verlieren.

Russische Streitkräfte

Russland dementiert heftig, dass seine Truppen in der Ukraine kämpften. Allerdings waren nach Nato-Angaben vergangenen Juli im Donbass russische Panzertruppen im Einsatz. Einige westliche Beobachter vermuten, eine russische Buk-Besatzung habe die Boeing mit einer ukrainischen Militärmaschine verwechselt.

Ein kompletteres Szenario schlägt das deutsche Rechercheteam Correctiv vor: Um eigene Panzer zu schützen, beschoss ein Buk-System der russischen Armee eine ukrainische SU-25, die suchte Deckung im Radarschatten der darüber fliegenden Boeing, das Peilsystem der Buk-Rakete schwenkte auf die größere Passagiermaschine um...

Schuld wären die russischen Militärs, die die Rakete abfeuerten, aber auch die ukrainischen Kampfpiloten sowie Kiew und die internationalen Behörden, die den umkämpften Luftraum nicht sperrten. Eine rundum unangenehme, aber schlüssige Erklärung.

Es ist gut möglich, aber keineswegs sicher, dass ein Buk M1 der russischen Armee schoss. Die Beteiligung einer russischen Buk-Bedienungsmannschaft an dem Verbrechen bestätigte krass die von Wladimir Putin persönlich abgestrittene Verwicklung des russischen Militärs in den Donbass-Krieg. Und ihm selbst drohte das Attribut "Kriegsverbrecher".

Fazit: Kein Schuldiger?

Es bleiben zwei Hauptverdächtige, die Ukraine und Russland. Die Mehrzahl der Indizien weist auf Russland. Aber es sind nur Indizien, keine Beweise. Ein Jahr Wahrheitssuche hat vor allem einen Berg von Lügen, widersprüchlichen Zeugenaussagen und Photoshop-Fälschungen angehäuft. Weder Russland noch die USA haben Luft- oder Satellitenfotos des Abschusses geliefert, obwohl ihre Aufklärung das Schlachtfeld wohl intensiv beobachtete.

Gut möglich, dass es am Ende keinen zweifelsfrei überführten Täter geben wird, erst recht keinen Geständigen. Wer auch immer hinter dem Abschuss steckt, er wird es wohl nie zugeben.

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