Wahlen in der Türkei Ein neue Ära beginnt
ISTANBUL · Präsident Recep Tayyip Erdogan, der als Sieger so vieler Wahlen der vergangenen Jahre an den Wahlabenden stets mit feurigen Reden vor seine jubelnen Anhänger getreten war, zeigte sich nach der Wahlschlappe überhaupt nicht. Klarer Gewinner des Abends war die Kurdenpartei HDP.
Nach der Wahlschlappe kam die Wählerbeschimpfung. "Unverdient" sei das Ergebnis, sagte Burhan Kuzu, ein führender Politiker der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Während sich Kuzu über den Wähler aufregte, flimmerten die Ergebnisse der Parlamentswahlen über die Fernsehschirme der Türkei: Die AKP sackte von fast 50 Prozent bei der letzen Wahl 2011 auf 40,8 Prozent ab und verlor ihre absolute Mehrheit im Parlament. Eine absolute Katastrophe für die Regierungspartei.
Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu war in einer ersten Stellungnahme etwas zurückhaltender als Kuzu: Was immer die Nation entscheide, sei richtig, sagte er in seinem Wahlkreis Konya. Siegesreden klingen anders. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der als Sieger so vieler Wahlen der vergangenen Jahre an den Wahlabenden stets mit feurigen Reden vor seine jubelnen Anhänger getreten war, zeigte sich überhaupt nicht.
Klarer Gewinner des Abends war die Kurdenpartei HDP: Sie kommt auf 12,8 Prozent und schickt 78 Abgeordnete ins neue Parlament. Der Frieden habe über den Krieg gesiegt, sagte der prominente HDP-Politiker Sirri Süreyya Önder.
Auf den Straßen der inoffiziellen Kurdenhauptstadt Diyarbakir herrschte am Wahlabend gespanntes Warten: Die Führung der Kurdenpartei forderte ihre Anhänger auf, mit dem Feiern zu warten, bis die Ergebnisse endgültig feststehen.
Der HDP kam bei der Wahl eine Schlüsselrolle zu. Weil sie den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde ins Parlament von Ankara schaffte, verloren die AKP und Erdogan ihre Regierungsmehrheit im Parlament.
[kein Linktext vorhanden]Die AKP blieb zwar mit knapp 41 Prozent stärkste Partei, doch ihr Sitz-Anteil im Parlament rutschte wegen des Parlamentseinzugs der HDP auf 257 Mandate und damit weit unter die absolute Mehrheit von 276 Sitzen. Die säkularistische CHP kam auf 25,2 Prozent der Stimmen, die nationalistische MHP auf 16,5 Prozent.
Erdogan hatte als Wahlziel der AKP die Marke von 330 Abgeordneten genannt: Mit dieser DreiFünftel-Mehrheit wollte die AKP eine Verfassungsänderung zur Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei einleiten. Erdogan wollte sich als Präsident zusätzliche Vollmachten geben lassen, was von der Opposition als Schritt in die Diktatur beklagt wurde.
Der Präsident sei mit seinem Vorhaben klar gescheitert, räumte auch der für seine Nähe zum Präsidenten bekannte Journalist Mehmet Barlas im Fernsehen ein: "Das Präsidialsystem wandert jetzt erst einmal wieder in die Schublade."
Die Regierungsbildung in Ankara wird schwierig, da die Partnersuche der Parteien zur Bildung einer Koalition auf große inhaltliche Probleme treffen dürfte. AKP-Mann Kuzu dachte deshalb bereits laut über Neuwahlen in einigen Monaten nach. Erdogan könnte das neue Parlament gleich wieder auflösen und das Volk binnen weniger Monate erneut an die Urnen rufen.
Der Zeitungskolumnist Mustafa Akyol schrieb auf Twitter, es sei unwahrscheinlich, dass die Türkei nach der Wahl zur Ruhe komme. Die heftigen politischen Spannungen im Land würden auf absehbare Zeit bestehen bleiben.
Erdogans Plan hatte der HDP zusätzliche Unterstützung von Wechselwählern eingebracht, die mit einer Stimmabgabe für die Kurdenpartei die Präsidialpläne des 61-Jährigen verhindern wollen. Insbesondere in der 15-Millionen-Metropole Istanbul schnitt die HDP überdruchschnittlich gut ab.
Gleichzeitig zeichneten sich Verluste der AKP bei islamisch-konservativen kurdischen Wählern ab, weil Erdogan sich im vergangenen Jahr geweigert hatte, den kurdischen Verteidigern der nordsyrischen Stadt Kobane gegen die Belagerer der Dschihadisten-Miliz Islamischer Staat zur Hilfe zu kommen.
Erdogans Wahlstrategie habe darauf gezielt, konservative Kurden von einer Parteinahme für die HDP abzuhalten, sagte der Politologe Seyfettin Gürsel. Diese Strategie scheiterte: In der Kurdenmetropole Diyarbakir holte die HDP mehr als 80 Prozent. Insbesondere in Zentralanatolien behielt die AKP jedoch ihre traditionelle Stärke.
Im Verlauf des Wahltages hatte es viele Beschwerden über mutmaßliche Wahlmanipulationen gegeben. So berichteten Anhänger der HDP, in einigen Wahllokalen seien Wahlbeobachter nicht zugelassen oder verprügelt worden. An mehreren anderen Orten fanden Wahlbeobachter der Opposition nach eigenen Angaben bereits ausgefüllte und versiegelte Stimmzettel für die AKP vor.