Zwei Jahre nach Putschversuch Ende des Ausnahmezustands in der Türkei

Istanbul · Kritik an den Umständen war vor allem aus der Wirtschaft gekommen. Die nun von Präsidnet Recep Tayyip Erdogan geplanten Gesetzesverschärfungen könnten zu neuen Krach mit der Europäischen Union führen.

 Gedenkveranstaltung zum zweiten Jahrestag des Putschversuches: Präsident Recep Tayyip Erdogan warnt vor neuen Angriffen.

Gedenkveranstaltung zum zweiten Jahrestag des Putschversuches: Präsident Recep Tayyip Erdogan warnt vor neuen Angriffen.

Foto: AFP

Zwei Jahre nach dem Putschversuch vom Juli 2016 endet in der Türkei an diesem Mittwoch der Ausnahmezustand – doch eine Rückkehr zur Normalität wird es nicht geben. Die Staatsgewalt habe die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die für den Staatsstreich verantwortlich gemacht wird, zwar größtenteils zerschlagen, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntagabend. Aber die Angriffe auf die Türkei würden nicht enden, setzte er hinzu.

Die Vorstellung einer ständigen Gefahr neuer Umsturzversuche wird zur Staatsdoktrin. Erdogans Regierung arbeitet deshalb an einem Gesetzespaket, um wesentliche Vollmachten der Sicherheitsbehörden unter dem Ausnahmezustand in normales Recht zu übersetzen. Dabei droht neuer Krach mit Europa.

Erdogan sprach vor Hunderttausenden Zuhörern bei einer Istanbuler Gedenkveranstaltung zum zweiten Jahrestag des Putschversuches, bei dem 250 Menschen ums Leben kamen. Die Hintergründe der Gewalt sind bis heute nicht restlos aufgeklärt. Die Gülen-Bewegung, die lange mit Erdogans Partei AKP verbündet war, hatte ihre Anhänger in den vergangenen Jahrzehnten auf einen Marsch durch die türkischen Institutionen geschickt, in denen sie viele Schlüsselposten besetzten. Laut der Erdogan-Regierung wollten Gülens Leute mit dem Putschversuch endgültig alle Macht an sich reißen. Der in den USA lebende Gülen weist den Vorwurf zurück und sagt, Erdogan habe den Staatsstreich inszeniert, um einen Vorwand für ein drakonisches Vorgehen gegen Regierungskritiker zu haben.

Der Ausnahmezustand schränkt die Rechte von Verdächtigen ein und setzt Regeln des Rechtsstaates außer Kraft. Seit Juli 2016 hat die Regierung rund 150.000 Beamte, Soldaten, Richter, Lehrer und Polizisten wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in der Gülen-Gruppe aus dem Staatsdienst entlassen. Laut UN-Zahlen wurden weitere 150.000 Menschen festgenommen, Hunderte Medien und Verbände der Zivilgesellschaft wurden verboten. Besitz im Volumen von mehr als zehn Milliarden Dollar fiel laut Medienberichten durch die Beschlagnahmung des Eigentums von Gülen-Verdächtigen dem Staat zu.

Nicht zuletzt in den Reihen der Wirtschaft wuchs deshalb im Laufe der vergangenen zwei Jahre die Kritik am Ausnahmezustand. Investoren vermissten Planungs- und Rechtssicherheit. Erdogans Entscheidung, den Ausnahmezustand nach sieben Verlängerungen nun auslaufen zu lassen, ist deshalb auch Teil der Bemühungen seiner Regierung, die Türkei wieder attraktiver für Anleger zu machen. Ein starker Wertverlust der türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar, eine hohe Inflation und ein wachsendes Außenhandelsdefizit erfordern rasches Handeln Ankaras. Erdogans Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak wird in den kommenden Tagen zu Gesprächen mit Anlegern in London erwartet.

Albayrak wird dabei erläutern müssen, wie sich die nominelle Aufhebung des Ausnahmezustandes mit dem Plan der Regierung verträgt, diesen durch die Hintertür teilweise wieder einzuführen. Mehrere Zeitungen berichten von einem 30 Punkte umfassenden Paket zur Reform des Anti-Terror-Gesetzes, das dem Parlament vorgelegt werden soll. Im neuen Präsidialsystem, das mit Erdogans Wahlsieg im Juni eingeführt wurde, kann der Präsident zwar Dekrete erlassen, muss sich für Gesetze jedoch Mehrheiten in der Volksvertretung suchen. Da Erdogans AKP und die mit ihre verbündete Rechtspartei MHP zusammen über 339 der 600 Parlamentssitze verfügen, ist eine Mehrheit für neue Sicherheitsgesetze gewiss.

Mit dem Paket soll den Sicherheitsbehörden laut den Berichten unter anderem die Verhängung von örtlichen Ausgangs- und Demonstrationsverboten erlaubt werden. Zudem soll die Polizei mehr Zeit zum Verhör von Verdächtigen bekommen als die höchstens fünf Tage, die das Strafgesetzbuch vorschreibt. Das Gesetzespaket soll an diesem Mittwoch ins Parlament eingebracht werden – an jenem Tag also, an dem der Ausnahmezustand ausläuft.

Zur Rechtfertigung der Gesetzesverschärfung verweist die Regierung auf das Beispiel Frankreich, wo die Sicherheitsbehörden ebenfalls nach einem fast zweijährigen Ausnahmezustand neue Rechte zur Terrorbekämpfung erhielten. Dennoch zeichnen sich neue Spannungen zwischen der Türkei und der EU ab. Brüssel verlangt von Ankara seit Monaten eine Liberalisierung der türkischen Terrorgesetze und macht dies zur Voraussetzung für Erleichterungen im Reiseverkehr. Türkische Politiker entgegnen, ihr Land müsse auf Gefahren für den Staat reagieren. Von einer Wiederannäherung sind Türkei und EU weit entfernt.

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