Kommentar zur Lage in der Türkei Erdogans Hexenjagd

Meinung | Istanbul · Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nutzt das Entsetzen der Öffentlichkeit über den Umsturzversuch im Sommer, um endlich das angestrebte Präsidialsystem mit ihm selbst an der Spitze zu etablieren.

 Türkische Polizisten blockieren eine Straße in Istanbul in der Nähe der Zentralredaktion der Oppositionszeitung "Cumhuriyet", während Menschen gegen die Festnahme führender Journalisten in der Türkei protestieren.

Türkische Polizisten blockieren eine Straße in Istanbul in der Nähe der Zentralredaktion der Oppositionszeitung "Cumhuriyet", während Menschen gegen die Festnahme führender Journalisten in der Türkei protestieren.

Foto: dpa

Die Festnahme der kurdischen Abgeordneten und der wachsende Druck auf die Medien in der Türkei entsprechen einem Eskalationsmuster, das seit dem Putschversuch vom Juli die politische Linie von Präsident Recep Tayyip Erdogan bestimmt. Der 62-Jährige nutzt das Entsetzen der Öffentlichkeit über den Umsturzversuch und den im Sommer verhängten Ausnahmezustand zur Vorbereitung eines Präsidialsystems mit ihm selbst an der Spitze.

Die Führung in Ankara ist sich bewusst, welche Folgen es haben kann, wenn die legalen Vertreter der Kurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Verkehr gezogen werden. Das Land werde in einen „blutigen Höllenschlund“ gezogen, schrieb der Journalist Hasan Cemal, einer der letzten prominenten Erdogan-Kritiker, die noch in Freiheit sind. In einem Beitrag für das Nachrichtenportal T24 warf Cemal dem Präsidenten vor, eine Diktatur errichten zu wollen.

Weitgehend unumstritten ist, dass Erdogan sich den mehrheitlich konservativen Türken als Garant der Stabilität präsentieren will, um so die weit verbreitete Skepsis der Wähler gegen ein Präsidialsystem abzubauen. Die neue Gewaltwelle der kurdischen Rebellengruppe PKK seit dem Sommer vergangenen Jahres und der Putschversuch vom Juli bieten ihm Gelegenheiten, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Im kommenden Frühjahr will Erdogan die Türken in einer Volksabstimmung über den Übergang vom Parlaments- zum Präsidialsystem abstimmen lassen. Eine weitere innenpolitische Polarisierung könnte Erdogan helfen, die nötigen Mehrheiten zu bekommen. Schon bei der Parlamentswahl vor einem Jahr profitierte seine Regierungspartei AKP von den neuen Spannungen im Kurdenkonflikt.

Fast 40.000 angebliche Putschhelfer in Untersuchungshaft

Seit dem Putsch sind zudem mehr als hunderttausend Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes ihrer Posten enthoben worden; fast 40.000 angebliche Putschhelfer sitzen in Untersuchungshaft. Die Hexenjagd wird benutzt, um die Vorherrschaft der AKP-Anhänger im Staatsapparat zu zementieren. Gleichzeitig soll die mit der AKP rivalisierende Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zerschlagen werden.

Auf diese Weise könnte sich der politische Charakter der Türkei in den kommenden Monaten grundlegend und auf Dauer wandeln: Präsidialsystem statt Parlament, wichtige Staatsinstitutionen wie Justiz, Polizei und Armee auf Regierungslinie, eingeschränkte Rechte der Opposition. Der Journalist Cemal vermutet, Erdogan wolle zudem eine „auf dem Islam und auf konservativ-religiösen Werten“ basierende Ideologie verankern.

Geordneten politischen Widerstand gegen diesen Kurs gibt es nicht. Zudem ist Erdogans Türkei weitgehend unempfänglich für Druck aus der EU und den USA: Die Bedeutung des Landes in der Flüchtlingsfrage und im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in den Nachbarländern Irak und Syrien hat den türkischen Präsidenten in der Ansicht bestärkt, dass Europa und die USA die Türkei dringender brauchen als umgekehrt. Zumindest in der nächsten Zeit sind deshalb weitere Spannungen und möglicherweise auch blutige Auseinandersetzungen in der Türkei zu erwarten.

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