Angela Merkel auf Türkeireise „Europa lässt sich von Erdogan erpressen“

Istanbul · Vor dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Istanbul warnen türkische Oppositionelle vor Zugeständnissen an Präsident Recep Tayyip Erdogan. Am Sonntagabend traf die Kanzlerin dort mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammen.

 Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Oktober 2015 bei einem Treffen in Istanbul.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Oktober 2015 bei einem Treffen in Istanbul.

Foto: dpa

Europa und Angela Merkel haben in den vergangenen Monaten viele Freunde in der Türkei verloren. Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan werfen der EU und der Kanzlerin vor, zunehmende Verstöße Erdogans gegen europäische Werte wie Demokratie und Rechtsstaat zu ignorieren, um sich die Kooperationsbereitschaft Ankaras in der Flüchtlingskrise zu sichern. Einschneidende Änderungen dieser Haltung von Brüssel und Berlin sind beim erneuten Besuch der Kanzlerin in Istanbul heute nicht zu erwarten.

Merkel betonte in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, einige Entwicklungen wie die drohende Strafverfolgung kurdischer Politiker nach dem Parlamentsvotum zur Immunitätsaufhebung bereiteten ihr große Sorge. Sie wolle mit Erdogan über alle wichtigen Fragen sprechen. Ihre als Kotau vor Erdogan kritisierte Linie in der Flüchtlinge rechtfertigte die Kanzlerin jedoch mit dem Hinweis auf die „Notwendigkeit zum Interessenausgleich“.

Die Kanzlerin kam am Sonntag mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammen. Merkel tauschte sich am Abend nach ihrer Ankunft in der türkischen Metropole Istanbul unter anderem mit Journalisten, Anwälten und Menschenrechtlern aus. Das Gespräch sollte zeigen, dass Merkel nicht nur Wert auf die Meinung der Mächtigen in der Türkei legt. Doch Politikerinnen wie Feleknas Uca, eine aus Celle stammende Abgeordnete der türkischen Kurdenpartei HDP, die zusammen mit rund 50 Fraktionskollegen nach der Immunitätsaufhebung schon bald vor dem Richter stehen könnte, waren nicht eingeladen.

Was Uca der Kanzlerin bei einem solchen Treffen sagen würde, wäre für Merkel wahrscheinlich nicht angenehm. „Europa lässt sich von Erdogan erpressen“, schimpfte Uca im Interview mit unserer Zeitung. Wegen der Hilfe Ankaras bei der Drosselung des Flüchtlingsstroms werde bei Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen der Sicherheitskräfte gegen Zivilisten schweigend zugesehen. „Europa muss Erdogan die Rote Karte zeigen“, sagte sie.

Erdogan reitet auf Welle des Erfolges

Viel Hoffnung, dass dies geschehen wird, hat Uca nicht. Sie selbst rechnet damit, bald vor Gericht gestellt zu werden. Fünf Strafanträge wegen angeblicher Verbreitung von Propaganda der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) liegen gegen die HDP-Politikerin vor. Erdogan bezeichnet die HDP offen als Helferin der PKK-Terroristen, die im Parlament nichts verloren habe.

Der 62-jährige Präsident reitet auf einer Welle des Erfolges. Sein Land erntet international viel Beifall für die Versorgung von 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen und darf heute in Istanbul den ersten Weltgipfel für humanitäre Hilfe der UN ausrichten. Innenpolitisch schickt sich Erdogan an, die HDP mit der Immunitätsaufhebung politisch kaltzustellen. Die anderen Oppositionsparteien im Parlament unterstützen Erdogans Regierungspartei AKP mitunter sogar, wie beim Votum gegen die HDP. So kommt Erdogan seinem Ziel – der Einführung eines Präsidialsystems – jeden Tag ein Stück näher.

Deshalb ist kaum zu erwarten, dass Erdogan zu Kompromissen in wichtigen Fragen bereit sein wird. Auf das Nein zur EU-Forderung nach Änderungen der türkischen Terrorgesetze hat er sich öffentlich festgelegt. Erdogan sieht sich im Umgang mit der EU wegen der Flüchtlingskrise am längeren Hebel. Beim Thema Visafreiheit steht Erdogan auf dem Standpunkt, dass die EU ihm den Wegfall der Reisebeschränkungen fest zugesagt hat – ohne Änderung der Terrorgesetze. Der Präsident zeigt mit seiner Aufkündigung der Zusagen, die der abgelöste Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in den Verhandlungen mit der EU einging, dass er die Spielregeln im Umgang zwischen Ankara und Brüssel ändern will.

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