Interview mit Experte Manfred Sapper Fall Nawalny: “Die Botschaft lautet: Habt Angst!“

Interview | Bonn · Der Russland-Experte Manfred Sapper spricht im GA-Interview über den Fall des im Koma liegenden Kreml-Kritikers Alexej Nawalny und dessen Rolle als Oppositioneller. Zudem geht es um mögliche Hintergründe.

 Großes Interesse: Alexander Murachowski, Chefarzt im Ambulanzkrankenhaus Nr. 1 in Omsk, erläutert den Gesundheitszustand von Alexej Nawalny.

Großes Interesse: Alexander Murachowski, Chefarzt im Ambulanzkrankenhaus Nr. 1 in Omsk, erläutert den Gesundheitszustand von Alexej Nawalny.

Foto: dpa/Evgeniy Sofiychuk

Der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny liegt im Koma und kämpft um sein Leben; seine Anhänger vermuten einen Giftanschlag. Er soll nun in Deutschland behandelt werden. Über mögliche Hintergründe spricht im Interview Manfred Sapper, Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa.

Herr Sapper, Nawalnys Team spricht von einer Vergiftung, die Ärzte in Omsk haben eine Stoffwechselstörung diagnostiziert. Die Lage ist unübersichtlich. Für wie plausibel halten Sie die Attentatsvorwürfe?

Manfred Sapper: Ich bin weder Arzt noch war ich in Omsk im Krankenhaus. Aber wir können auf der Basis von Fakten sagen, was in den vergangenen Jahren passiert ist. So ist Alexej Nawalny nicht zum ersten Mal vergiftet worden, es wäre der dritte, wenn nicht vierte Giftanschlag. Einmal hat er ein Auge fast verloren. Nawalny ist der zentrale Oppositionelle Russlands. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr wurde hier in Berlin im Kleinen Tiergarten ein tschetschenischer Oppositioneller erschossen. Die Hinweise, dass dahinter der russische Geheimdienst steckt, sind so stark, dass die Bundesanwaltschaft dahingehend ermittelt. Und es gibt weitere Beispiele.

An welche Beispiele denken Sie da?

Sapper: Etwa an die Vergiftung von Sergej Skripal und seiner Tochter mit dem Mittel Nowitschok in Salisbury, wo die Beweislage ganz klar ist, dass dies auf Betreiben der russischen Geheimdienste geschah. Es gibt eine ganze Reihe von ähnlichen Fällen. Insofern halte ich die Vermutung, dass es sich hier um eine Vergiftung, also einen Anschlag, handelt, für außerordentlich naheliegend.

Warum könnte Nawalny in den Blickpunkt gerückt sein?

Sapper: Nawalny hat sich extrem viele Feinde gemacht in der politischen Klasse Russlands. Er ist der einzige ernst zu nehmende Oppositionelle und der einzige, der dem System Putin die Stirn bieten kann, weil er sich ohne Angst mit den Stützen des Regimes anlegt. Er zeigt die schamlose, sich bereichernde, korrupte Praxis der Eliten, indem er technisch hervorragend gemachte Filme mit seiner Stiftung zur Bekämpfung der Korruption dreht und offenlegt, was für ein Vermögen sich die Kreml-Kamarilla zusammengaunert.

Außerdem...

Sapper: ... hat er den Chef des Geheimdienstes, Alexander Bortnikow, den Leiter des Ermittlungskomitees,  Alexander Bastrykin, oder den Ex- Generalstaatsanwalt Juri Tschaika angegriffen. Alle haben gemeinsam, dass sie in dem Graubereich von Korruption und schamloser Bereicherung Millionen gescheffelt haben. Es gibt einige, die auf individueller Ebene ein Motiv hätten, ihn auszuschalten.

Und politisch?

Sapper: Auch da ist Nawalny ein Problem. Er ist derjenige, der eine der Systemfragen autoritärer Herrschaften oder Diktaturen infrage stellt. Eine Machtressource dieser Herrschaften, die wir im Westen immer unterschätzen, ist der Zynismus der Menschen und die Angst. Nawalny ist angstfrei. Er zeigt anderen Menschen, dass man nur mit Rückgrat und ohne Angst ein mündiger Bürger sein kann. Er ist der einzige Oppositionelle, der sich Strukturen geschaffen hat, die die gesamte Gesellschaft mobilisieren können, junge wie alte, gebildete wie einfache Menschen. Seine investigativen Filme sehen Millionen von Menschen. Das bringt ihn in eine politische Machtposition. Und das Ganze vollzieht sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Belarus.

Wie meinen Sie das?

Sapper: Dort passiert genau das Gleiche. In Belarus überwinden Menschen, die gestern noch zynische Untertanen waren, ihre Angst und machen sich zu Bürgern. Das unterstützt Nawalny absolut und schlägt den Bogen zu dem, was seit fünf Wochen in Chabarowsk im Osten Russlands passiert, wo die Bürger ohne Angst gegen die Absetzung des dortigen Gouverneurs protestieren. Das ist eine ernste Systemfrage, die Nawalny im Vorfeld der Regionalwahlen, die im September in einigen Gebieten Russlands anstehen, geweckt hat.

Würde das aus Ihrer Sicht auch den Zeitpunkt des möglichen Attentats erklären?

Sapper: Das kann sein. Wir wissen nicht und werden auch nie erfahren, wer der eigentliche Auftraggeber ist. Das ist etwas, was wir immer bei Vergiftungen oder Ermordungen von Politikern aus Russland im Kopf haben müssen. 2015 ist der prominente  Oppositionelle Boris Nemzow erschossen worden. Festgenommen wurden irgendwelche Täter, aber bis heute ist nicht klar, wer den Auftrag zur Ermordung Nemzows erteilte. Es gab immer wieder derartige Fälle, wo politisch relevante Gegner, die nicht kleinzukriegen waren, letztlich Opfer schwerer Gewalttaten wurden. In diese Reihe würde der Fall Alexej Nawalny passen. Alle Indizien sprechen für ein politisches Attentat.

Was ist die Botschaft?

Sapper: Das ist die Ausschaltung des wichtigsten Kreml-Kritikers und gleichzeitig eine Ansage an die gesamte Bevölkerung. Die Botschaft lautet: Habt Angst! Seid vorsichtig, Ihr wisst genau, was passiert. Jedes Attentat ist auch eine politische Kommunikation. Wir sollten aufhören, uns falsche Vorstellungen von dem Charakter des russischen politischen Systems unter Putin zu machen. Wir wissen, dass solche Fälle mit erdrückender Beweislage immer wieder vorkommen, von Litwinenko bis Skripal. Es ist empörend, dass einer der Mörder Alexander Litwinenkos 2006 in London ein hoch dotierter Abgeordneter der Staatsduma in Moskau ist und Immunität genießt.

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