Fußball-Europameisterschaft in Frankreich Fußballfieber? Bisher noch Fehlanzeige

Paris · Am 10. Juni beginnt die Europameisterschaft. Während das Thema Sicherheit großgeschrieben wird, ist von sportlicher Begeisterung wenig zu spüren.

 Im Pariser Prinzenparkstadion finden fünf EM-Spiele statt. Dabei wird es sicherlich ähnlich stimmungsvoll zugehen wie bei Heimspielen des französischen Meisters Paris Saint-Germain.

Im Pariser Prinzenparkstadion finden fünf EM-Spiele statt. Dabei wird es sicherlich ähnlich stimmungsvoll zugehen wie bei Heimspielen des französischen Meisters Paris Saint-Germain.

Foto: dpa

Auf den ersten Blick könnten sie Fußballfans sein, die ein gemeinsames Ziel vereint: die Hoffnung auf einen Sieg. Dutzende Menschen haben sich auf dem Pariser Platz der Republik versammelt, stehen grüppchenweise zusammen oder sitzen auf Plastiktüten, die sie auf dem Steinboden ausgebreitet haben. Das Publikum ist gemischt, wenn auch besonders viele Schüler und Studenten darunter sind. Sie scherzen, streiten, fallen einander ins Wort.

Doch die hitzigen Diskussionen drehen sich keineswegs um Länderteams oder die Auswahl der Spieler. „Fußball? Wir haben derzeit andere Sorgen!“, sagt Student Yann mit verächtlichem Ton. Die Welt verbessern – nichts weniger wollen er und seine Kumpel. Sind sie Idealisten, Träumer, Querulanten? In jedem Fall bestimmen sie schon seit Wochen die Schlagzeilen, und nicht das Großereignis, das ab dem 10. Juni in Frankreich ausgetragen wird: die Fußball-Europameisterschaft.

Mit „Nachts wach“ oder „Aufrecht durch die Nacht“ lässt sich ihre Bewegung „Nuit debout“ aus Globalisierungs- und Kapitalismuskritikern übersetzen, die sich seit Ende März jeden Abend auf Plätzen im ganzen Land zu Demonstrationen versammelt. Nicht immer geht es dabei friedlich zu. Randalierer greifen regelmäßig öffentliche Gebäude, Banken oder die Polizei an, die Tränengas und Schlagstöcke einsetzt. So wie Hooligans am Rande von sportlichen Ereignissen, so drohen die Krawallmacher die gesamte Bewegung in Misskredit zu bringen.

Entstand diese Bewegung zunächst im Widerstand gegen die neue, als „neoliberal“ kritisierte Arbeitsmarktreform der Regierung, so drückt der anhaltende Bürgerprotest längst mehr aus: eine allgemeine Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik und den sozialen Ungleichheiten, die sich verstärken. Die Stimmung kurz vor dem Anpfiff der Europameisterschaft ist angespannt, Euphorie darüber kaum spürbar und Yann fasst die Lage in die passenden Worte: Frankreich hat andere Sorgen.

Zu ihnen gehört nicht nur der Verdruss über die schwierige wirtschaftliche und soziale Lage, womit auch der Aufstieg der extremen Rechten in Zusammenhang steht, sowie die Ohnmacht der Regierung und von Präsident François Hollande, sondern auch die Angst um die Sicherheit, nachdem das Land mehrmals von islamistischen Terroranschlägen erschüttert worden ist. Die Attacken gegen das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ sowie einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 und dann die Terrorserie vom 13. November, bei der an verschiedenen Orten in Paris 130 Menschen getötet und mehr als 350 verletzt wurden, brannten den Franzosen die bittere Gewissheit ein: Die Gefahr ist nicht gebannt, es kann jederzeit wieder passieren, der Horror sich überall wiederholen – trotz der höchsten Sicherheitsstufe, auch und gerade während der Fußball-EM, wo innerhalb eines Monats 2,5 Millionen Besucher in den Stadien und sieben Millionen Fußballfans insgesamt erwartet werden. Wie lassen sie sich möglichst umfassend schützen – wissend, dass es kein Nullrisiko gibt? Vor dieser Sorge tritt die Frage in den Hintergrund, wer am Ende den EM-Pokal holen wird.

Terroristen hatten sich am 13. November neben der Konzerthalle Bataclan sowie Café- und Restaurant-Terrassen auch das Stade de France im nördlich von Paris gelegenen Vorort Saint-Denis als Anschlagsziel ausgesucht, wo das Auftaktspiel der Europameisterschaft und das Finale stattfinden werden. An jenem Unglücksabend sahen unter anderem Präsident Hollande und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier dem Freundschaftsspiel zwischen der deutschen und der französischen Nationalmannschaft zu. Neben drei Selbstmordattentätern starb ein Mann, Dutzende wurden verletzt.

Später erklärte Mohamed Abrini, der im Frühjahr als Mitglied des franko-belgischen Terrornetzwerks von der Polizei gefasst wurde, dieses habe während der Fußball-EM zuschlagen wollen – um Frankreich erneut ins Mark zu treffen. Doch die Festnahme von Salah Abdeslam, dem einzigen Überlebenden der Pariser Attentäter, änderte die Pläne abrupt. Kurz nach seiner Verhaftung verübten seine Komplizen Anschläge in der Metro und am Flughafen von Brüssel, töteten 35 Menschen und verletzten mehr als 300.

Zwar lässt sich im quirligen Pariser Alltag kaum eine Veränderung erkennen, abgesehen von der starken Präsenz von Polizei und Militär. Die Straßen sind belebt wie eh und je, Cafés, Restaurants und Kaufhäuser voller Menschen. Doch alle Tourismustreibenden leiden noch immer unter dem Rückgang von Buchungen in der meistbesuchten Stadt der Welt. Paris hat nicht mehr nur den Ruf als Stadt der Liebe, sondern nun eben auch als Stadt des Terrors.

Wer hier lebt wie Pascal, 38-jähriger Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, kann „natürlich die Furcht nie ganz verdrängen, selbst in einen Anschlag zu geraten“, wie er sagt. Trotzdem will er wie immer die wichtigsten Spiele in seiner Stammbar ansehen, die nicht weit vom Platz der Republik liegt. „Es begleitet einen zwar ein mulmiges Gefühl. Aber wir können ja nicht aufhören zu leben, auszugehen. Sonst hätten diese Dreckskerle gewonnen.“

Auch deshalb stand eine Absage der EM nicht zur Debatte. Kurz nach den Pariser Anschlägen erklärte die Uefa, sie vertraue darauf, dass das Gastgeberland die „notwendigen Maßnahmen“ treffe, um die Sicherheit zu gewährleisten. Schon zur internationalen Klimakonferenz COP21 im Dezember reisten 40 000 Teilnehmer an sowie die Staats- und Regierungschefs von mehr als 150 Ländern, darunter China, die USA und Russland. Ein Zwischenfall blieb aus.

Politiker und Behörden bemühen sich um Beruhigung. Die EM werde „ein festlicher Moment“, versichert Antoine Boutonnet, zuständiger Polizeikommissar für den Kampf gegen Ausschreitungen durch Hooligans. „Alle Schutzmaßnahmen sind im Vorfeld ausgearbeitet worden, damit man sie gar nicht sieht und die sportlichen Werte im Vordergrund stehen.“ Auch Innenminister Bernard Cazeneuve hat eine „außergewöhnliche Mobilisierung“ und das „höchstmögliche Sicherheitsniveau“ versprochen. Der im November erlassene Ausnahmezustand gilt noch bis 26. Juli, damit er die EM sowie die Tour de France abdeckt.

Um Polizei, Notärzte und Feuerwehr auf den Katastrophenfall vorzubereiten, werden seit Wochen im ganzen Land Simulationen von Terrorangriffen organisiert. 10 000 Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen sind für die Überwachung der Stadien, der 24 Teambasislager, offiziellen Hotels und Medienzentren zuständig. In und vor den Stadien wird die Videoüberwachung ausgebaut, Zuschauer müssen bis zu ihrem Platz durch drei Kontrollen.

Umstritten war lange, ob es bei den Fanzonen in den zehn Austragungsstädten Paris, Saint-Denis, Lyon, Marseille, Saint-Etienne, Toulouse, Nizza, Lille, Lens und Bordeaux bleibt. Zehntausende Menschen werden in diesen abgegrenzten Bereichen zum Public Viewing auf Großleinwänden erwartet – eine lückenlose Kontrolle erscheint fast unmöglich, trotz systematischer Durchsuchungen und Überwachungen, die die Städte insgesamt 17 Millionen Euro kosten. Anonym schimpfen Vertreter der Polizeigewerkschaft in den Medien, die Fanzonen seien „ein Wahnsinn“ und noch eine Belastung mehr für die Beamten, die ohnehin schwer in Mitleidenschaft gezogen werden.

Sportminister Thierry Braillard hingegen versichert, „in Sachen Sicherheit kann man nicht mehr machen“. Auf dem Spiel stehe immerhin Frankreichs Ruf, Großereignisse sicher und professionell organisieren zu können – auch mit Blick auf die Olympischen Spiele 2024, für die die Pariser Bewerbung läuft. Die Fanzonen seien wichtig, damit die Euro so offen und festlich wie möglich bleibe.

Doch kurz vor ihrem Start fehlt es an echtem Enthusiasmus, Fußball ist im Alltag und in den Medien kaum ein Thema. Das Fieber werde wohl erst im letzten Moment einsetzen, prophezeit Pascal. „Bis jetzt interessiert es nur eingefleischte Fans und selbst die waren noch mit der französischen Meisterschaft beschäftigt. Aber wenn unsere Bleus einen guten Start hinlegen und zumindest das Halbfinale erreichen, werden die Leute das verfolgen.“ Gute Laune und etwas Leichtigkeit kann Frankreich brauchen, auch wenn kaum einer von einem glorreichen Sieg wie bei der WM 1998 vor heimischem Publikum zu hoffen wagt. Sollte das Turnier zumindest gewaltfrei über die Bühne gehen, ist schon viel gewonnen. Egal, wer letztlich gewinnt.

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