Gewalt und Leid in Syrien Eskalation im Schatten des Gaza-Kriegs
Istanbul/Damaskus · Während die Weltöffentlichkeit auf Gaza blickt, nehmen in Syrien Gefechte in allen Landesteilen zu. Staaten und Milizen versuchen, militärische Vorteile herauszuschlagen. Die Interessen sind dabei vielfältig.
Die russische Luftwaffe bombardiert Drohnenfabriken und Kommandozentralen der Rebellen im Nordwesten von Syrien. Die türkische Artillerie beschießt Stellungen der syrischen Miliz YPG im Nordosten des Bürgerkriegslandes. Pro-iranische Milizen greifen amerikanische Stützpunkte an. Israelische Jets bombardieren syrische Flughäfen: Im Schatten des Gaza-Krieges eskaliert die Gewalt in allen Teilen Syriens.
Die oppositionsnahe syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zählte Anfang der Woche im Rebellengebiet in Nordwest-Syrien 16 russische Luftangriffe innerhalb von nur zwei Tagen. Seit Anfang des Monats lag die Zahl der Angriffe demnach bei 24. Im Oktober starben nach Angaben von Menschenrechtlern mehr als 65 Menschen. Die Gefechte trieben nach UN-Schätzungen in den vergangenen Wochen weitere 70.000 Menschen in die Flucht.
Während die Welt auf Gaza blickt, versuchen Staaten und Milizen im Syrien-Konflikt militärische Vorteile herauszuschlagen. Das Ergebnis seien Gefechte, „die zu anderen Zeiten eine Reaktion provozieren würden“, sagt Osman Bahadir Dincer von der Bonner Denkfabrik Bicc. „Immer wenn irgendwo in der Region die Spannungen zunehmen, machen verschiedene Akteure sich das zunutze“, sagte Dincer unserer Zeitung. „Die derzeitigen Militäraktionen Russlands und des syrischen Regimes sind ein Beispiel dafür.“
Die Kämpfe sind zum Teil direkte Folgen des Gaza-Krieges. Pro-iranische Milizionäre beschossen amerikanische Stützpunkte in Syrien seit dem 7. Oktober wegen der US-Unterstützung für Israel. Die israelische Luftwaffe griff in den vergangenen Wochen die Flughäfen in der syrischen Hauptstadt Damaskus und in Aleppo an, um Waffenlieferungen aus dem Iran über Syrien an die Hisbollah-Miliz in Libanon zu stören; die Hisbollah beschießt seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober israelische Städte in der Nähe der libanesischen Grenze, um die Hamas zu unterstützen.
Ein Übergreifen des Gaza-Krieges auf Syrien sei keine Möglichkeit mehr, sondern schon Tatsache, sagte der UN-Syrienbeauftragte Geir Pedersen. Es bestehe die Gefahr, dass die syrische Zivilbevölkerung „einer größeren Eskalation“ ausgesetzt werde.
Nicht alle neuen Gefechte in Syrien hängen mit dem Gaza-Krieg zusammen. Sie spielen sich aber weitgehend unbemerkt ab, weil die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas konzentriert ist. Wenige Tage vor Ausbruch des neuen Konflikts starben mehr als 100 Menschen bei einem Drohnen-Anschlag syrischer Rebellen auf die Abschlussfeier einer Militärakademie in der Stadt Homs. Syrische Regierungstruppen und die russische Luftwaffe verstärkten daraufhin ihre Angriffe auf die Rebellenprovinz Idlib.
Der Angriff der sprengstoffbeladenen Drohnen in Homs sei ein schwerer Rückschlag für den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gewesen, sagt der Nahost-Experte Joshua Landis von der Universität Oklahoma. Assad hatte in den vergangenen Jahren mit russischer Hilfe große Teile von Syrien von den Rebellen zurückerobern können und war seinen Gegnern militärisch überlegen. Der Drohnenangriff auf die Kadetten in Homs habe nun aber die technologischen Fähigkeiten der Rebellen und die Verwundbarkeit der Regierungstruppen demonstriert, sagte Landis unserer Zeitung.
Katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung
Landis vergleicht den Schock der syrischen Regierung nach dem Anschlag von Homs mit dem Entsetzen in Israel nach dem Angriff der Hamas. Mit den Luftangriffen im Nordwesten Syriens will das Assad-Regime nach seinen Worten den Rebellen so schwere Verluste beibringen, dass sie ähnliche Angriffe wie in Homs nicht noch einmal versuchen – „mit katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung“. Der stellvertretende UN-Hilfskoordinator für Syrien, David Carden, wertet die Vergeltungsangriffe auf die Rebellengebiete nach dem Anschlag von Homs als „schwerste Eskalation der Kämpfe seit 2019“.
Im Nordosten von Syrien verstärkt die türkische Armee unterdessen ihren Kampf gegen die syrische YPG-Miliz, einen Ableger der kurdischen Terrororganisation PKK. Die YPG ist ein Partner der USA im Kampf gegen den Islamischen Staat; Ankara wirft Washington deshalb vor, mit Terroristen zu kooperieren. Zudem gibt es Kämpfe zwischen der YPG und arabischen Gruppen im Osten Syriens - auch dabei sind in den vergangenen Monaten viele Menschen ums Leben gekommen. Im Süden des Landes gibt es Proteste gegen das Assad-Regime und gegen die schlechten Lebensbedingungen. Internationale Vermittlungsversuche oder verstärkte Hilfslieferungen für die Zivilisten in Syrien sind wegen des Gaza-Krieges derzeit nicht zu erwarten.